Was triggert da wen und warum oder: Der Kampf geht weiter? Ein Essay über Corona, Depressionen, Antisemitismus, die drohende Rückkehr zur Normalität, das Recht auf Existenz und das Recht zu sterben (oder doch nicht). Mit einem psychosozialen Experiment zum Abschluss. Von Peter Mast

Louise Michel zum 150. Geburtstag der Pariser Kommune gewidmet,

der „Louise Michel“ für die Rettung von Flüchtenden im Mittelmeer

Dieser Text ist aus einer Depression heraus geschrieben. Einer Depression, die mit ihrer akuten Phase kurz nach dem Beginn der sog. Corona-Krise eingesetzt hat und bis heute nicht abgeklungen ist. In diesem Text wird versucht, Gründe dafür zu finden, es wird der Versuch unternommen, sich auf die Suche nach möglichen Ursachen zu begeben.

Auch wenn bewußt ist, dass diese wesentlich individuell zu verorten sind, besteht trotzdem die Annahme, dass viele der hier geäußerten Gedanken auch andere Menschen betreffen. Darum sollen sie hier formuliert werden.

Dem Text liegen viele Notizen und Fragmente der letzten Wochen und Monate zugrunde. Es wird versucht, sie hier in einen Zusammenhang zu stellen. Allen Überlegungen liegt natürlich eine jahrelange Reflexionszeit zugrunde.

Mit den Corona-Maßnahmen wurde der permanente Ausnahmezustand zur Normalität, wurde das, was vorher nur Erfahrungshintergrund einer Minderheit war, zum Alltag für die Mehrheitsgesellschaft. Mit den Corona-Beschränkungen und dem Lockdown wurde das, was Depressive von sich aus vollziehen, zur verordneten Verhaltenspaxis der ganzen Gesellschaft: der Rückzug auf das Selbst und in die eigene Wohnung, soziale Distanz, Vereinsamung, erzwungene Passivität. Das fatale ist, dass damit Prozesse verstärkt wurden, die eine Depression fördern können und schon vorhandene depressive Leiden weiter verschlimmern, sie zusätzlich triggern und chronifizieren.

Es gibt also die unmittelbare Corona-Krise mit ihren vielfältigen Veränderungen im Alltag, damit einhergehenden Beschränkungen mitsamt den damit verbundenen Konsequenzen, die Depressionen hervorrufen oder verstärken. Aber es gibt auch andere Geschehnisse, die eine Rolle spielen: ein neu erstarkender Antisemitismus, die Diskussion um Sterbehilfe, eine Debatte um das, was „Normalität“ bedeutet und eine mögliche Rückkehr zu ihr. Hängt das alles irgendwie zusammen und wenn ja, wie ?

Sind die Gründe komplexer, die eine Depression in diesen Zeiten erzeugen, nicht nur beim Autor dieser Zeilen, sondern auch bei bei vielen anderen Menschen? Warum wird die Depression gerade in dieser Corona-Krise im wahrsten Sinne des Wortes „virulent“? Und warum nimmt gleichzeitig der Antisemitismus wieder zu? Historisch war dieser immer ein Indikator für gesellschaftliche Veränderungen. Was triggert da wen und warum?

Gibt es bei vielen psychisch sensiblen Menschen eine – vielleicht unbewusste – Ahnung von sich anbahnenden gesellschaftlichen Prozessen, die im Moment noch unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle ablaufen, deren Entpuppung aber in nicht all zu ferner Zeit bevorstehen könnte (und es könnte vielleicht kein wunderbarer Schmetterling sein)?

Kapitalismus und Depression

Die Zunahme von Depressionen und anderen psychischen Leiden (manche sehen es als Krankheit) verlief in den letzten Jahrzehnten, der Ära des Neoliberalismus, parallel mit einer Zunahme formaler Freiheiten. Im ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Bereich. Es war ein Prozess, in dem die Rebellion von „68“ und der folgenden Jahre mit ihren zahlreichen sozialen Bewegungen, kulturellen Aufbrüchen und individuellen Emanzipationsbestrebungen in die Logik des Kapitalismus integriert wurde. Diversität aller Art war willkommen, wenn sie einer ökonomischen Verwertbarkeit zuführbar gemacht werden konnte.

Der Kapitalismus unterzog sich dabei einem weitreichenden Transformations- und Modernisierungsprozess. Es entstand ein „neuer Geist des Kapitalismus“, wie eine sozialwissenschaftliche Formulierung es ausdrückte. Als dessen Kehrseite stieg die Zahl der Depressionen, auch in der beschönigenden Bezeichnung des „Burnout“.

Eine Depression kann als „shutdown“, also eine Schließung, aber auch als „lockdown“ , also eine Ausgangssperre, begriffen werden, je nachdem, ob der Anstoß dazu eher von innen oder von außen empfunden wird. Was die Depression immer kennzeichnet, ist die Verweigerung des Kampfes.

Dem shotdown als individueller Rückzugsbewegung steht der lockdown der sozialen Umwelt gegenüber, die darauf mit Abwehr und Abwertung reagiert. Denn die Depression stellt eine Gegenlogik zur kapitalistischen Leistungsgesellschaft dar.

Und auch das ist eine bittere Wahrheit: die zurückliegenden Jahrzehnte neoliberaler Transformation haben nicht nur die Ökonomie erfasst, sondern die Gesellschaft als ganzes geprägt und verändert, auch die Formen des sozialen Zusammenlebens und nicht zuletzt die Psyche der einzelnen Individuen. Anforderungen wie Selbstoptimierung, Eigenverantwortung oder Kommunikationsfähigkeit, die ganze Palette der sog. soft skills, sind längst zum normalen Standard geworden, als „Selbstverständlichkeiten“ internalisiert.

Wer dem nicht gerecht werden kann, droht früher oder später die Exklusion aus sozialen Zusammenhängen – allen Inklusionsversprechen und Diversitätspostulierungen zum Trotz. Der gesellschaftlich wie mental nach wie vor herrschende Ableismus, also die Diskriminierung und Ausgrenzung von als defizitär und dysfunktional empfundenen Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, ist als Dominanzkultur ungebrochen, selbst in den sich diesen Tendenzen gegenüber kritisch verstehenden Milieus. Das ist besonders dann fatal, wenn ein solcher aus der Sicht der Betroffenen als „safe space“ vorgestellter sozialer Schutzraum sich als dessen Gegenteil entpuppt und selbst als Ort der Bedrohung und Gefährdung empfunden wird, mit allen damit verbundenen traumatisierenden Wirkungen.

Das Nicht-Kämpfen-Wollen-Können wird von den von der Depression Betroffenen in der Wahrnehmungsübernahme (oder genauer: Wahrnehmungsübertragung) der Perspektive der sozialen Umwelt vielfach als individuelles Scheitern erlebt. Als eine (Selbst-)Verletzung, die als völlige Bedeutungslosigkeit, Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit des eigenen Seins erlebt wird. Und in soziale Isolation und Einsamkeit führt (was durch die Corona-Beschränkungen noch massiv verstärkt wurde). Die Depression schlägt sich im eigenen Selbst-Verständnis als völlige Zerstörung des Selbstwert-Gefühls nieder.

Aus Sicht der sozialen Umwelt wird das Nicht-Kämpfen als Bedrohung und Infragestellung der herrschenden Ordnung empfunden und entsprechend abgewehrt. Der Kapitalismus als Leistungsgesellschaft zwingt zum Aufbau einer Fassade, wenn man nicht ausgeschlossen werden soll. Erschöpfung ist nur dann legitim, wenn sie als ein Vorgang der Selbstverausgabung im Dienste dieses Leistungsgedankens erzählt wird.

Dazu dient das Narrativ des „Burnout“. Der herrschende Diskurs der Leistungsgesellschaft wird damit nicht beschädigt oder infrage gestellt, sondern bestätigt, wenn man in deren Kampfgeschehen „ehrenvoll“ an der Selbstverwertungsfront fällt. Und sich natürlich selbstoptimierend redlich bemüht, wieder aufzustehen und dann wieder weiter zu kämpfen. Auch gegen sich selbst.

In der Regel wird dabei im Vorgang einer „Identifikation mit dem Aggressor“ die Sichtweise der Umwelt übernommen und als Selbstsicht übernommen. Damit verbunden ist eine Selbstabwertung, die bis in die Selbstvernichtung führen kann. Wenn die Depression aber nicht als „Feind“ und „Gegnerin“ begriffen wird, die bekämpft werden muss, sondern als eine Freundin, die es gut mit einer/einem meint, kann sie in dieser entgegengesetzten Sichtweise auch als „Exodus“ verstanden werden.

Der meist aus der Bibel bekannte Begriff meint den Auszug aus der Sklaverei, die Flucht aus der Gefangenschaft eines nicht selbst bestimmten Lebens. Ein Akt, der sich dem von der Umwelt aufgezwungenen Kampf entzieht, auch dem damit verbundenen permanenten Lebenskampf.

In dieser Sicht kann die Depression als ein Rückzug von einer als durch Überforderung und Bedrohung gekennzeichneten, jedenfalls individuell so empfundenen äußeren Welt gesehen werden. In diesem Sinne also als Auszug in eine innere Welt als Schutzraum (auch wenn dieser nur imaginär ist, wie die Schockstarre in einer traumatischen Situation). Vielleicht ist das auch bei anderen psychischen Zuständen, die in der psychiatrischen Klassifikation als „Psychose“ oder „Schizophrenie“ bezeichnet werden, der Fall.

Grundsätzlich kann man sich das depressive Geschehen als eine Art „Wachkoma“ vorstellen. Der Mensch ist aufnahmefähig, was Geschehnisse in der Umwelt angeht, aber gleichzeitig handlungs- und artikulationsunfähig. Meist wird alles von einem permanentem Grübeln bestimmt, in dem kein Ende der Gedanken zu finden ist, sondern immer nur ein neuer Anfang.

Zum Beispiel das ständige Grübeln um die Frage, wie ein möglichst nachhaltiger Suizid vollzogen werden kann, wenn ein Organspendeausweis vorhanden ist. Das grenzt die Auswahl möglicher Verfahren stark ein, sollen irreparable Schäden vermieden werden. Und führt in ein quälendes Gedankenkarussel voller Ausweglosigkeiten und Selbstvorwürfen, wenn nicht mal ein politisch korrekter Suizid möglich scheint.

Man kann Depressionen natürlich auch als rein biochemischen Vorgang begreifen, im Sinn einer Stoffwechselstörung, die durch Verabreichung von Psychopharmaka wieder reguliert wird und wodurch der in diesem Sinne „gestörte“ Mensch wieder auf ein funktionsfähiges Niveau gebracht wird. Das ist in der Regel die übliche Sicht in der Psychiatrie. Danach ist dann alles wieder gut (über Risiken und Nebenwirkungen informiert die Packungsbeilage).

Der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher, als Autor, Blogger und politischer Aktivist vielfältig präsent, schrieb 2009 in seinem ersten Buch „Kapitalistischer Realismus“: „Die gegenwärtig vorherrschende Ontologie bestreitet die Möglichkeit, dass mentale Krankheiten soziale Ursachen haben. Die chemisch-biologisierte mentale Krankheit geht einher mit ihrer Depolitisierung. Mentale Krankheit als chemisch-biologisiertes Problem aufzufassen, hat enorme Vorteile für den Kapitalismus. Erstens stärkt es den Drang des Kapitals hin zu atomisierter Individualisierung (du bist krank wegen der chemischen Zusammensetzung deines Gehirns) und zweitens bietet es einen äußerst lukrativen Markt, in dem multinationale Pharmaunternehmen mit ihren Medikamenten hausieren gehen. Ohne Frage sind mentale Krankheiten neurologisch feststellbar, das sagt jedoch nichts über deren Ursachen aus. Wenn zum Beispiel angenommen wird, dass Depression durch niedrige Serotoninlevel bedingt ist, muss immer noch erklärt werden, warum bestimmte Individuen niedrige Level von Serotonin haben. Das verlangt nach einer sozialen und politischen Erklärung; die Repolitisierung von mentaler Krankheit ist eine dringende Aufgabe für die Linke, wenn sie den Kapitalistischen Realismus herausfordern will.“

Mark Fisher litt Zeit seines Lebens an Depressionen. Er hat lange gekämpft, gegen seine Depression und gegen die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, unter denen er gelitten hat, und er hat beides in einem untrennbaren Zusammenhang gesehen. Am 13. Januar 2017 hat er diesen Kampf aufgegeben, weil er keine Kraft mehr hatte und sich mit seinem Suizid für einen letzten Akt der Selbstbestimmung entschieden.

In der Nacht vor der Trauerfeier anläßlich seiner Beerdigung haben Studierende des Colleges, an dem er unterrichtete, ein Wandbild angebracht. Es ist ein Zitat aus seinem Buch »Kapitalistischer Realismus«, das als Vermächtnis von Mark Fisher gelten kann: „Emanzipatorische Politik muss immer den Anschein einer ‚natürlichen Ordnung‘ zerstören und das als notwendig und unausweichlich Dargestellte als reine Kontingenz aufdecken. Ebenso muss sie das als erreichbar sichtbar machen, was zuvor als unmöglich erschien.“

Wahnsinn und Normalität

Der Bezugspunkt für eine Psychiatrie-Kritik findet sich meistens in den angewandten Methoden, in einem fragwürdigen Klassifizierungssystem mit zum Teil willkürlichen Diagnosen und natürlich der Anwendung von Gewalt und Zwangsmitteln. Der Bezugspunkt für das Selbstverständnis der Psychiatrie ist in der Regel die sog. „Normalität“, ist neben der „Heilung“ der „Verirrten“ (soweit möglich) immer auch die Verteidigung der Gesellschaft und der herrschenden Ordnung, auf der sie basiert.

Dass diese „Normalität“ selbst pathologischen Charakter haben könnte, eine Form von „Wahnsinn“ darstellt, wie es etwa der Psychoanalytiker Arno Gruen formulierte (so grundlegend in seinem Werk „Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität“), kommt der psychiatrischen Rationalität selten in den Sinn.

Konsequenz müsste dann sein, dass eine sich selbst und ihre Grundlagen hinterfragende Psychiatrie diesen Bezugspunkt aufgibt und sich zur Anwältin einer Diversität von Lebensformen erklärt, die sich genau von dieser Art von „Normalität“ verabschiedet, sich ihr entzieht. Vielleicht könnte sie dann wirklich Menschen unterstützen, die medizinische Hilfe benötigen (und diese Menschen gibt es natürlich!) , um in dieser Normalität zu überleben. Aber wahrscheinlich muss man wahnsinnig sein, um sich das vorzustellen.

Historisch hat sich die Psychiatrie im Kampf gegen alles Abweichende, gegen alles „störende“ herausgebildet, in engem Schulterschluß mit dem zeitgenössischen Antisemitismus. So in der Entwicklung des modernen Klassifikationssystems, das von Emil Kraepelin wesentlich mit formuliert wurde, in dessen Münchener Klinik im Zug der Revolution 1918/19 zahlreiche daran beteiligte jüdische Revolutionäre wie Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam oder Ernst Toller als „Psychopathen“ und „Hysteriker“ pathologisiert und diskreditiert wurden. Weil sie den Krieg und den Kampf als Lebensprinzip radikal ablehnten.

Die Ideologie der Eugenik, die das Leben als Kampf begreift, in dem sich die Stärksten durchsetzen, und die dann in Deutschland in die sog. „Euthanasie“ mündete, weil die Schwächsten nicht mehr als „Ballastexistenzen“ mit durchgefüttert werden sollen, ist nicht zufällig von vielen Psychiatern mitgetragen worden.

Die Patient*innenmorde in der sog. T4-Aktion und die Shoah sind nicht nur durch das Personal verbunden, das von den Tötungsanstalten mit ihrer dort erprobten Technologie und ihrem dort erlangten technischem Wissen in die Vernichtungslager wechselte und dort weiter mordete. Es sind auch vielfältige Korrespondenzen im Denken, das die damalige Psychiatrie mit dem Antisemitismus verbindet (das die dort beteiligten Psychiater auch Antisemiten waren, liegt nahe).

An einer Depression zu leiden, bedeutete in der NS-Zeit praktisch ein Todesurteil. Die bei einer Depression vielfach auftretenden Gedanken von Selbstabwertung und Selbstvernichtung finden dabei Parallelen im Antisemitismus. Es gibt eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen dem, was als sog.“jüdischer Selbsthass“ (der in Wahrheit nur eine Identifizierung mit und Übernahme der Sicht der antisemitischen Umwelt darstellt) beschrieben und dem, was mit der Krankheitsdiagnose der „Depression“ bezeichnet wird (und als pathologischer Vorgang definiert und klassifiziert wird). Ein in beiden Sachverhalten analoger Vorgang, der gegen das eigene Selbst gerichtet wird.

Ein Gemeinplatz ist, dass die Nazis brutale Mörder an unschuldigen Opfern waren und dass es Menschen, für die das Kriterium eines „lebensunwerten Lebens“ gilt, nicht geben kann. Mit einer Ausnahme: und das ist bei von einer Depression betroffenen Menschen oft die eigene Person. Das eigene Leben, das als nicht lebenswert empfunden wird.

Dieses Phänomen ist bekannt in vielen Familien (auch der des Autors), in denen es Opfer der Naziverbrechen gab. Es äußert sich nicht selten in Form von Schuldgefühlen, die als transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen, häufig in Form von Täter-Introjekten, noch in Nachfolgegenerationen Spuren hinterlassen haben. Die sich dann oft in Form einer Depression mit Suizidgedanken manifestieren.

Die Normalität des Kampfes

Eigentlich sollte nach 1945, nach diesem entsetzlichen Krieg und nach Auschwitz das Leben kein Kampf mehr sein, erst recht kein Überlebenskampf. Sollte das Leben frei von Angst, zumindest von Existenzangst sein (jedenfalls in Bereichen, wo dies möglich ist, also mit politischen Mitteln absicherbar).

Dass in der Realität das Gegenteil der Fall war, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Konsequenz war ein politischer Aktivismus zahlloser Menschen – wie auch des Autors – in vielen Formen und Bereichen, in der Bilanz meist von weitgehender Erfolglosigkeit und permanentem Scheitern gekennzeichnet. Mental aufgefangen nur mit der Selbstsuggestion, dass ohne ein solches Engagement dieser Menschen alles noch viel schlechter aussehen würde. Geschenkt! Also: „Der Kampf geht weiter!“

„Der Kampf geht weiter!“ ist eine Parole, die in der Geschichte der Linken sehr verbreitet war. Zu finden ist sie meistens in historischen Situationen des Scheiterns. Also in Situationen, in denen soziale Bewegungen sich wieder einmal der eigenen Niederlage bewusst wurden. Was so ziemlich die Regel war.

Signifikanteste Verkörperung dieses Scheiterns linker radikaler Politik ist wahrscheinlich die Szene , in der Rudi Dutschke, der wohl bekannteste Kopf der 68er*innen in Deutschland, mit geballter Faust am Grab des RAF-Mitglieds Holger Meins rief „Holger, der Kampf geht weiter!“ Meins war an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben. Berühmt geworden ist ein letztes Foto, in dem er bis auf die Knochen abgemagert bei vielen eine starke Assoziation mit dem Erscheinungsbild der sog. „Muselmänner“ weckte, wie in der Lagersprache der KZ-Häftlinge von völliger Unterernährung entkräftete Insass*innen bezeichnet wurden. Ob dies von Meins beabsichtigt war, sei dahingestellt.

Weniger bekannt ist, dass die Parole „Der Kampf geht weiter!“ auch einen faschistischen Hintergrund hat und gerne von Rechtsextremen und Nazis aller Schattierungen verwendet wird. Gespeist vom Hass auf das Andere, auf Diversität in allen Formen. „Kampf“ ist eine veritable rechte Leitidee. Bezeichnenderweise titelte Hitler seine Selbstverständigungsschrift „Mein Kampf“.

Aber „Kampf“ lässt sich nicht eindeutig politisch codieren, er stellt vielmehr eine grundlegende Signatur des menschlichen Zivilisationsprozesses dar. Was aber, wenn ein Mensch nicht mehr kämpfen will? Oder kann, weil er irgendwann erschöpft ist? Ist eine Welt, ein Leben ohne Kampf überhaupt möglich? Wenn der politische Wille dafür vorhanden wäre?

Dass dieser Wille in der Regel nicht vorhanden ist, hängt mit dem Verhältnis zur Natur zusammen. Das die Menschheit eben als Kampf begreift. Ein Naturverhältnis, das von Unterwerfung bestimmt ist und nicht von einer von Rücksicht geprägten ökologischen Balance. Das spiegelt sich auch in der menschlichen Psyche wider. Darin, dass eine Unterwerfung der äußeren Natur nicht ohne eine gleichzeitige Unterwerfung der inneren Natur möglich ist, ohne eine damit einhergehende Selbst-Disziplinierung nicht denkbar ist. Gewalt wird also auch gegen sich selbst gerichtet, gegen die eigene Natur.

Dieser permanente Kampf im und gegen das eigene Selbst begründet bei vielen Menschen einen Selbsthass, der sich aus einer – verdrängten und unterdrückten – Sehnsucht nach einem ganz anderen Verhältnis zu sich selbst speist, das die meisten Menschen sich nicht gestatten. Und deshalb auch allen anderen Menschen nicht erlauben können. Weil es psychisch nicht zu ertragen ist, dass es Menschen gibt, die diesen Akt der Selbstunterwerfung nicht vollziehen wollen.

Ein Vorgang, der von dem Philosophen Theodor W. Adorno mit dem Begriff der „pathischen Projektion“ bezeichnet wurde. In diesem Prozess wird der Selbsthass nach außen auf alle projiziert, die von diesem Akt der Selbstunterwerfung abweichen. Also auf alles, was in Bezug darauf Diversität verkörpert. Die erbarmungslos bekämpft wird und gegen die sich manifeste Vernichtungsphantasien richten.

Seien es Jüdinnen und Juden (genauer: „Juden“ in ihrer antisemitischen Konstruktion), Sinti und Roma, Menschen mit anderer Hautfarbe als der der Mehrheitsgesellschaft, Mensch mit von der heterosexuellen „Normalität“ abweichenden sexuellen und geschlechtlichen Orientierungen, von der Gesellschaft Behinderte, Menschen mit nonkonformistischen Lebensvorstellungen, als nicht produktiv eingestufte, als „Asoziale“, „Ballastexistenzen“, „Parasiten“ etikettierte … – die Liste möglicher Hassobjekte ist endlos.

Das Trauma und seine Opfer

All jene, die so anders sind, müssen „geopfert“ werden, damit die herrschende Ordnung nicht in Unordnung gerät. Die westliche, historisch von Europa ausgehende Grundlage der Welt- und Naturbeherrschung basiert auf einem Opferkult. Der in der aus der christlichen Tradition stammenden Leitidee der Verehrung eines Opfertodes wurzelt, der als Bedingung der Erlösung gilt.

Damit untrennbar verbunden war historisch der Hass auf diejenigen, die mit dieser Opferlogik gebrochen haben und sich einer „Bekehrung“ hierzu strikt verweigern: dem Judentum. Hier liegt die Wurzel des Antisemitismus, mit all seinen Transformationsstadien von einem religiös codierten Antijudaismus zu einem „rassisch“, also rassistisch formulierten modernen Antisemitismus.

Teilhabe an der Macht bedeutet im Kontext einer traumatischen Konstellation, nicht Opfer zu sein. Das eigene Überleben zu garantieren, indem man sich mit der Logik der Täterseite gemein macht. Nicht Opfer zu sein, bestimmt die Logik der Traumastruktur. „Du Opfer!“ ist nicht zufällig eine weit verbreitete Abwertungsaussage. Das Opfer wird nicht geliebt. In einer gesellschaftlichen Struktur, in der jedeR potentiell zum Opfer werden kann, wird das Opfer gehasst. Der sog. „sekundäre Antisemitismus“ nach und trotz Auschwitz operiert mit dem Vorwurf, die Juden würden aus ihrer Opferrolle noch Profit ziehen wollen. Wenn das die 6 Millionen wüssten…

Der Zusammenhang von Antisemitismus und Zivilisationsprozess ist grundlegend und evident, beide sind untrennbar verbunden. Wie ein Schatten begleitet der Antisemitismus den Prozess der menschlichen Zivilisation in den letzten zweitausend Jahren, jene Dialektik von äußerer und innerer Naturbeherrschung. Antisemitismus muss im Zusammenhang mit der gewalthaften traumatischen Struktur menschlicher Vergesellschaftung in der Geschichte des Zivilisationsprozesses begriffen werden.

Ein Prozess, der die Menschheit auf den Mond, aber auch zu Auschwitz geführt hat. Ein Weg zu den Sternen, der über Peenemünde und die V2 geführt hat, auf dem sich der Zusammenhang von Zivilisation und Barbarei, von menschlicher Schöpferkraft und Destruktivität untrennbar verbindet, personifiziert etwa in der Gestalt von Wernher von Braun. An der Saturn-Rakete klebt das Blut tausender ermorderter Zwangsarbeiter, vernichtet durch Arbeit.

Arbeit und Gewalt, Nationalsozialismus und Normalität

„Arbeit macht frei“ stand am Eingangstor zur Hölle, dem Vernichtungslager Auschwitz und anderen Konzentrationslagern. Diese so verstandene „Arbeit“ ist auch das, was der Unterdrückung äußerer wie innerer Natur zugrunde liegt. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, heisst es schon in der Bibel. Und diese Formel zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte.

Von Luthers protestantischer Ethik über die bürgerliche Revolution gegen die müssige Aristokratie. Über die Arbeiterbewegung in ihrer Kritik an der kapitalistischen Bourgeoisie bis hin zum schwarzen Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Zu finden auch in der sowjetischen Verfassung unter Stalin und in den Asozialen-Paragraphen der DDR. Und natürlich in der bundesdeutschen Sozialstaatsdiskussion, etwa in der vehementen Abwehr eines bedingungslosen Grundeinkommens, das das „Fordern und Fördern“ der Hartz IV-Logik ersetzen soll.

Ist es aber nicht gerade ein Prüfstein für „Zivilisation“ (gewiss eine ungeheure Provokation für die meisten Menschen), sein Leben auch als „Ballastexistenz“, „Asozialer“ oder „Parasit“ führen zu können? Also genau jene Kriterien zu dementieren, hinwegzufegen, die für die Nazis das Kennzeichen eines „lebensunwerten“ Lebens waren, was erst einen wirklichen Bruch mit der Logik der NS-Vernichtungspolitik bedeuten würde?

Dieser Bruch wurde aber niemals vollzogen. Denn Opfer, die im Kontext der international verbreiteten Eugenik von Zwangssterilisation betroffen waren oder als „Asoziale“ begriffen wurden, wurden nicht als „NS-spezifische“ Opfer anerkannt. Weil diese Art von Ausgrenzung auch in den Demokratien auf Seiten der Alliierten vorhanden war: eben als Teil der allgemein anerkannten „Normalität“. Was ein Licht auf diese „Normalität“ wirft.

Das berührt eine ganz zentrale Frage, nämlich ob der Nationalsozialismus und die ihm zugrundeliegende Logik etwas „ganz Anderes“ war. Als Form von „Barbarei“ gewissermassen das Gegenteil der westlichen Zivilisation darstellte. Oder ob es sich hierbei – als gegensätzliche Interpretation – um eine Radikalisierungsform der auch der zivilisatorischen „Normalität“ zugrundeliegenden Logik handelt. In der diese nur bis zur letzten Konsequenz weitergedacht und praktiziert wurde. Vieles spricht dafür, das letzteres zutrifft. Eine „Normalität“, deren Logik bis heute existiert, wenn auch die Form ganz anders ist, eben „zivilisiert“. Ein Unterschied, der allerdings über Leben und Tod entscheiden kann.

Denn wir leben selbstverständlich nicht in einer Diktatur, wie in „Querdenker*innen“-Kreisen und unter Corona-Leugner*innen so heftig postuliert. Niemand wird heute in diesem Land in Konzentrationslager gesperrt und ermordet. Jedenfalls in der Regel bisher nicht von staatlicher Seite, auch wenn Fälle wie der des in einer Polizeizelle umgekommenen Asylbewerbers Oury Jalloh Fragen aufkommen lassen und eine zunehmende rechtsextreme Unterwanderung staatlicher Institutionen vor allem in Polizei, Militär und Justiz ein wachsendes Unbehagen erzeugen.

Das Leben oder: Freiheit als Kampf

Postnazistische Biomacht tötet nicht mehr. Es ist nicht die Macht, „sterben zu machen oder leben zu lassen“, sondern „leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘“, wie der französische Philosoph Michel Foucault es formulierte. „Freiheit oder Tod“ ist eine Parole historischer und auch gegenwärtiger Revolutionsbewegungen. In einer Gesellschaft wie dieser aber ist die Freiheit an die Stelle der Unterdrückung gerückt.

Es beinhaltet die Freiheit, sich im Lebenskampf behaupten zu müssen, im permanenten Konkurrenzkampf bestehen zu müssen, sich einer alles durchdringenden Ökonomisierung des Lebens und damit einhergehenden Verwertungszwängen aussetzen zu müssen. Es bedeutet aber nicht die Freiheit von Existenzangst, von drohender Obdachlosigkeit oder von durch all diesen Vorgängen ausgelöstem psychischem Leiden.

Es war ein Kreis vornehmlich jüdischer Intellektueller (auf Grund ihrer Lebenserfahrungen ein nicht zufälliger Aspekt), die sich in das amerikanische Exil haben retten können, der den Zusammenhang von Zivilisation und Barbarei untersuchte. Die versuchten, jene sowohl gesellschaftlicher „Normalität“ wie Völkermord gemeinsam zugrundeliegende Logik schon in der Zeitgenossenschaft zum NS-Regime und seinen Verbrechen analytisch zu fassen.

Vor allem ausgearbeitet in der „Dialektik der Aufklärung“, ein in den Jahren 1940 bis 1944 formulierter Text, der von Theodor W.Adorno und Max Horkheimer (unter Mitarbeit von Leo Löwenthal) verfasst wurde. Und in den viele grundlegende Überlegungen von Walter Benjamin einflossen, dem 1940 die Flucht in die USA nicht mehr gelang. Er entschloss sich in einer vom ihm als ausweglos empfundenen Situation nach einer gescheiterten Überquerung der französisch-spanischen Grenze in den Pyrenäen zum Suizid.

„Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe“ schrieb Benjamin, der sich als linker Intellektueller im Deutschland der 20er und 30er immer stärker gegen den auch in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung existierenden Fortschrittsbegriff wandte. „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“, schrieb er. Einem rasenden Zug, der sich unweigerlich dem Abgrund nähert, wie er in seinen nachgelassenen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ ausführte.

Es gibt das schöne Bonmot, dass die meisten Menschen sich eher vorstellen können, dass die Welt untergeht, als dass der Kapitalismus verschwindet. Warum erscheint das so? Vielleicht, weil der Kapitalismus als eine zweite Natur erscheint. Und zwar deshalb, weil die kapitalistische Logik ziemlich genau der traumatischen Erfahrung entspricht. Und wenn man nicht untergehen will, muß man kämpfen oder fliehen.

Wenn es aber keinen Fluchtpunkt gibt, weil der Kapitalismus global geworden ist, die ganze Welt seiner Logik unterworfen ist? Alternative Gesellschaftsentwürfe gescheitert sind oder nie haben überleben können, wo sie versucht wurden (und Nordkorea ist nicht wirklich attraktiv)? Dann bleibt letztlich nur, sich auf den Kampf einzulassen. Wenn man – als einzig verbleibende dritte Option – nicht in eine Schockstarre übergehen will: das wäre dann die Disposition der Depression.

Die kapitalistische Ökonomie sei im Prinzip nichts anderes als eine Religion, wie Walter Benjamin in einem früheren Fragment feststellte. Eine Religion mit einem inhärenten Opferkult. Einer unberechenbaren und scheinbar unkontrollierbaren, unsichtbaren Macht, dem Markt, müssen ständig neue Opfer gebracht werden, um dessen Gewalt zu besänftigen. Die Ähnlichkeit mit dem Opfer, das früher den Göttern gebracht wurde, um die Naturgewalten, die als göttliche Strafe empfunden wurden, zu beschwichtigen, ist kaum zufällig. Der Wert des Geldes beruht auf Glauben, auf nichts anderem, er ist mithin zutiefst religiös.

Nur: der Markt ist keine Naturgewalt, man muss sich ihm nicht hilflos ausliefern. Aber: die durch den Markt, als destruktive Kehrseite des mit ihm verbundenen Produktivitätswahnsinns, ausgelösten Zerstörungen erzeugen in der Tat neue, zunehmend unberechenbare Naturgewalten. Die immer mehr reale Opfer fordern, auch an Menschenleben. Oder wie Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller anmerkte: er kann nicht versprechen, dass alle ökonomisch die Corona-Krise überleben, aber dass es zumindest eine Chance geben soll, dass welche überleben. Ohne Opfer ist Kapitalismus eben nicht zu haben.

Es ist diese „Normalität“ kapitalistischer Vergesellschaftung, die erkennbar immer offensichtlicher gegen die Wand fährt, ihre eigenen Lebensgrundlagen immer mehr zerstört. Ob durch Klimawandel oder Artensterben. Ein Vorgang, der in der soziologischen Literatur mit Begriffen wie dem der „Externalisierungsgesellschaft“ (also dem Auslagern von destruktiven Begleiterscheinungen, quasi Kollateralschäden des westlichen Wohlfahrtsmodells in die „Senken“ des Südens) oder dem der „Imperialen Lebensweise“ (der Ausbeutung und asymmetrischen Aneignung von Ressourcen des Südens und der Natur) breit diskutiert wird. Ohne dass von der Politik bisher daraus adäquate Konsequenzen gezogen würden.

Diese Normalität ist vornehmlich männlich geprägt: es ist der Mann als „Kämpfer“, der den Kampf als Leitbild lebt. „Kampf“ ist eine originär männliche „Tugend“ (auch wenn er natürlich auch von Frauen unterstützt wird). Unter Gender-Gesichtspunkten äußert sich der Kampf gegen Diversität auch als Kampf gegen Feminismus, als Hass gegen Frauen, die die männliche Führungsrolle nicht akzeptieren wollen. Dass politische Protestbewegungen heute stark von Frauen geprägt werden, ob die Klimabewegung der Schüler*innen oder die Frauenbewegung in Polen gegen die Abtreibungsgesetze, ob antirassistische Bewegungen oder zahlreiche Kulturaktivitäten, zeigt, dass der Widerstand dagegen lebendig ist. Antifeminismus geht dabei oft untrennbar mit Antisemitismus einher.

Corona und der neue Antisemitismus

Es ist kein Zufall, dass antisemitische Codes in Gestalt vielfältiger Verschwörungsideologien gerade in der gegenwärtigen Corona-Krise wieder Konjunktur haben. In der traumatische Naturprozesse nicht als rational verstehbares Kausalverhältnis, sondern nur als Personifizierung von angeblich verborgenen Machtverhältnissen denkbar zu sein scheinen. Weil eine realistische und kritische Reflexion der Selbst- und Gesellschaftsverhältnisse eine radikale Infragestellung der herrschenden (sic!) Lebensform darstellen würde, die um jeden Preis abgewehrt werden soll. Mit allen damit verbundenen Konsequenzen.

Die Parallele zwischen den mit dem Virus verbundenen Gefahren und der Zeichnung des „Juden“ als gefährlichem und schädlichem „Bazillus“, wie sie in zahlreichen antisemitischen Tradierungen, etwa auch im nationalsozialistischen Propagandafilm „Der ewige Jude“ von 1940 in einem Schaubild dargestellt wurde, ist als Assoziationshintergrund offensichtlich. Und anscheinend als Bild nach wie vor wirkmächtig.

Dabei existiert eine merkwürdige Ungleichzeitigkeit. Die sog. „Querdenker*innen“ leben scheinbar in einer anderen Zeit, in einem anderen Wahrnehmungsraum. Sie phantasieren sich als selbst ernannten Widerstand gegen eine vorgebliche neue faschistische Diktatur herbei und vollziehen dabei jene altbekannte Täter-Opfer-Umkehr, die schon aus dem klassischen Antisemitismus bekannt ist. Denn schon im historischen Nationalsozialismus sieht sich das deutsche Volk (im eigenen Selbstverständnis) in einem legitimen “Verteidigungskrieg“ gegen das sog. „internationale Finanzjudentum“, dass die Alliierten finanziert und Deutschland zerstören will. Man befindet sich also in bester Tradition.

Wenn man die aktuelle Politik mit dem NS-System vergleicht, ist das allerdings nur möglich, wenn damit gleichzeitig eine Relativierung und Verharmlosung der Nazi-Verbrechen einhergeht. Die Maskenpflicht beim Einkaufen ist dann schon fast so schlimm wie die Folter im Gestapo-Keller. Der Vorteil einer solchen Weltsicht ist, dass die Nachfahren der Täter von damals sich heute als Opfer fühlen und inszenieren können und die Opfer von damals als Täter von heute dargestellt werden können. Eine solche Täter-Opfer-Umkehrung ist sehr praktisch, um sich von der „ewigen Schuld“ der Vergangenheit zu entlasten. Eine Schuld, die sich für die heutige Generation aber nur noch als Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft verstehen lässt.

Von den „Querdenker*innen“ ist es nicht weit zur sog. „Querfront“. Die Täter-Opfer-Umkehr findet sich auch in Teilen der deutschen Linken, in deren radikalem Antizionismus der nach der Shoah neu entstandene jüdische Staat Israel als faschistischer Staat erscheint, der die Palästinenser*innen brutal unterdrückt. Es ginge auch eine Nummer kleiner, auch ohne Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards. Man kann auch ohne diese Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus israelische Politik kritisieren, das ist legitim wie bei jedem anderen Staat auch. Aber darum geht es ja nicht. Was triggert da also wen und warum?

Die markante Ungleichzeitigkeit besteht darin, dass die postnazistische Realität in der Gegenwart nicht mehr viel mit dem historischen Nationalsozialismus zu tun hat, wenngleich sich hier und da durchaus noch Überreste finden lassen, v.a. im Mentalitätsbereich von Teilen der deutschen Bevölkerung, von Pegida über AfD bis hin zu Verschwörungsideolog*innen aller Art.

Nichtsdestotrotz sind durchaus Umrisse eines neuen Machtregimes erkennbar, die etwa als „Überwachungskapitalismus“ definiert werden können. Aber dieses neue Machtsystem beruht eben nicht mehr auf diktatorischer Unterdrückung, sondern auf Freiheit. Auf der Freiheit, seine eigenen Daten preiszugeben, sie in Algorithmen fassen zu lassen und sich so im wahrsten Sinne des Wortes „berechenbar“, mithin vorhersagbar, steuerbar, kontrollierbar, manipulierbar zu machen.

Natürlich müsste man dabei nicht mitmachen, auf Facebook, Twitter, Instagram, Google, Amazon etc.. Aber wer will das schon oder besser: wer kann das schon, ohne auf die damit verbundenen Vorteile und Annehmlichkeiten zu verzichten? Wer kann sich das überhaupt noch leisten, ohne sich selbst auszuschließen von Informationen, Kommunikation, Selbstpräsentation und natürlich sehr bequemen Konsum? Und der Möglichkeit, Fake News und Hassmails zu verbreiten?

Die Umkehrung der Rahmenerzählung der Erinnerungskultur

Aber um diese sehr realen Zusammenhänge geht es nicht bei dem imaginären Widerstand in einer imaginären Diktatur, der sich als Reinkarnation von Sophie Scholl und Anne Frank inszeniert und stolz den Judenstern an die Brust hängt, auf dem ein „Nicht geimpft“ in altdeutschen Lettern prangt. So ausgestattet wartet man gelassen auf die bevorstehende Deportation und sieht entspannt der eigenen Vernichtung entgegen.

Diese Umkehrung, die auf der Rahmenerzählung der deutschen Erinnerungskultur basiert, dient natürlich dazu, den Rahmen für eine neue alte Erzählung zu schaffen. Es ist die alte Rahmenerzählung des Antisemitismus in neuem Gewand, bei der auch schon mal darauf verzichtet werden kann, explizit von „Juden“ zu reden, weil sowieso alle wissen, was gemeint ist. Das ist der gute alte antisemitische Code, in der das Bezeichnete nicht mehr ausdrücklich bezeichnet werden muss. Für Kenner*innen klingt etwa in der großen QAnon-Erzählung der gute alte jüdische Ritualmord an unschuldigen Kindern weiter fort.

Es sind diese Kreise, in denen auch am vehementesten die Rückkehr zur guten alten Normalität gefordert wird. An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Offensichtlich handelt es sich bei dieser Widerstandsbewegung in ihrem Kern und Selbstverständnis um eine Verteidigungsbewegung zur Wiedererlangung eben jener Normalität, deren destruktiver Charakter offensichtlich ist. Deren inhärente Gewaltstruktur evident ist. Und das möchte man natürlich nicht verlieren. Denn dort hat die eigene Psyche ihr Zuhause.

Warum aber äußert sich das alles im Zusammenhang mit dem Corona-Virus? Was triggert da wen und warum? Hat das vielleicht etwas mit dem gerade beschriebenen Bild des „Ewigen Juden“ als „Bazillus“ zu tun? Mit der „jüdischen Ärzteverschwörung“, die Stalin im Januar 1953 kurz vor seinem Tod herbei fabulierte? Mit dem „internationalen Finanzjudentum“, das die Welt regiert? Ist es das, was da so „triggert“?

Ist es das im Unbewußten (oder ist es doch sehr bewußt?) nach wie vor existierende sog. „antisemitische Archiv“, in dem sich tradierte Überbleibsel der großen alten Erzählung erhalten haben? Die sich der Reeducation haben entziehen können in einem familiären Diskursraum, der sich jenseits der verordneten offiziellen Erinnerungskultur behauptet hat?

Oder ist es gar nicht mehr die Familie, sondern es sind die nicht mehr ganz so neuen sozialen Medien, in denen man sich die Welt schafft, wie sie eben so gefällt? Wie bei Pippi Langstrumpf, mit ihrem antiautoritären Gestus und der Abwesenheit einer Familie als erzieherischem Kontrollorgan? Ist da was schief gelaufen? Würde Pippi heute überzeugte Corona-Leugnerin sein oder radikale Impfgegnerin? Warum sind auf den Querdenk-Demos so viele Regenbogenfahnen, Peace-Zeichen und andere Accessoires ehemals linker Gegenkultur zu finden, in so un-verschämter Nachbarschaft zu Rechtsextremen aller Art? Was ist da passiert?

War da in den Untiefen antifaschistischer Psyche ein heimlicher Groll vergraben, der jetzt vehement an die Oberfläche drängt? Ein (un)heimlich verborgener Antisemitismus? Eine Psyche, die sich aber unbedingt weiterhin als antifaschistisch verstehen will? Die, um beides zusammenbringen zu können und dem psychischen Leidensdruck endlich zu entkommen, Antisemitismus und Antifaschismus zusammen denken muss, um endlich Erlösung zu finden? Ist Corona ein Wahrheitsvirus?

Interessant ist dabei die Rolle des Eugenik-Vorwurfs in der Querdenken-Bewegung und der Neuen Rechten und dessen politische Instrumentalisierung: es wird ein Narrativ formuliert, das den „Eliten“ unterstellt, mit dem Corona-Virus und der Impfkampagne Bevölkerungspolitik betreiben zu wollen und ökonomisch überflüssige Bevölkerungsgruppen eliminieren zu wollen. Also die Behauptung einer eugenischen Stoßrichtung der Covid-Maßnahmen, die sich mit „Euthanasie“-Assoziationen verbindet und diese mit antisemitisch codierten Zuschreibungen und Verschwörungsideologien verknüpft und daraus eine „antifaschistische“ Widerstandshaltung konstruiert.

Diese Konstruktion zeigt, wie wichtig es ist, die Rolle von Eugenik und T4-Verbrechen im Gesamtkontext des Nationalsozialismus darzustellen und den Zusammenhang deutlich machen, der Eugenik, Rassismus und Antisemitismus verbindet. Es ist zentral, diese einzelnen Bereiche nicht isoliert voneinander zu behandeln, sondern als verschiedene Aspekte der NS-Rassenideologie – die sich immer auch als „Endlösung“ der sozialen Frage verstanden hat – kenntlich zu machen: Also die Bedrohung des sog. „Volkskörpers“ von aussen (durch die „Fremdrassen“ als Feind im „Überlebenskampf“), von innen (durch die sog. „degenerierten“ Bestandteile der eigenen „Volksgemeinschaft“ als „Ballastexistenzen“) und in der Infragestellung der Rasseideologie insgesamt durch die „Juden“ in ihrer antisemitischen Konstruktion (die als „Gegenrasse“ begriffen wurden, die den „Volkskörper“ und das diesem zugrundeliegende identitäre Rassekonzept als solches auflösen durch ihre „Einnistung“ als „Parasiten“).

Um das Aufkommen von Covid 19 und anderer Viren zu erklären, bedarf es keiner absurden Verschwörungstheorien mit vermeintlichen Eliten im Hintergrund, keiner versteckten Mächte im Hintergrund, die irgendwelche Strippen ziehen. Sondern nur ein Blick auf den Raubbau an der Natur, die die Distanz zum Menschen immer mehr zum Verschwinden bringt und jene verhängnisvollen Kontakte ermöglicht, die das Überwinden der Artengrenzen für das Virus und seine Mutationen leicht macht.

Der Zusammenhang von massiver Regenwald-Abholzung, dadurch beschleunigter Klimakatastrophe und und dem Aufkommen immer neuer Viren, die die Artengrenze überschreiten, ist evident. Es ist so z. B. kein Zufall, dass gerade in Manaus, mitten im brasilianischen Amazonas-Gebiet, die zunehmende Zerstörung des Regenwaldes durch das Vordringen menschlicher Zivilisation und den damit verstärkten Kontakt mit menschlichen Populationen neue aggressive Mutationen mit hohen Todeszahlen hervorbringt. Das Virus kann also durchaus als ein Ergebnis der „Dialektik der Aufklärung“ gesehen werden: die vom Menschen mit Gewalt unterworfene Natur schlägt zurück. Und es tut weh.

Freiheit als Unterwerfung

Im Unterschied dazu unterliegt die Ökonomie keinem Naturgesetz, sie ist menschengemacht und lässt sich steuern. Nichts, gar nichts hindert uns daran, etwa ein garantiertes Grundeinkommen für alle Menschen auf dieser Welt zu schaffen. Wenn es politisch gewollt wäre. Ist es aber nicht. Und das liegt weniger an einer grundsätzlich nicht zu realisierenden Transformation der Ökonomie, sondern dass es von einer grossen Zahl von Menschen vor allem in den reichen Staaten dieser Welt psychisch wohl nicht zu ertragen wäre.

Die Entkopplung von Arbeit und Existenz reformuliert die Freiheit nicht als Lebenskampf, sondern als bedingungsloses Lebensrecht, was erst eine Lebensqualität ohne Angst ermöglicht. Sicher, das Recht auf Leben ist heute ein Grundrecht, zumindest in westlichen Demokratien. Aber welches Leben wird da rechtlich garantiert? Im Zweifelsfall das, unter einer Brücke zu schlafen. Das abstrakte Recht ist nichts wert ohne eine konkrete materielle Absicherung. Wie von der UNO propagierte universale Menschenrechte keine Wirkung haben, wenn sie nicht als Bürger*innenrechte auf nationaler staatlicher Ebene verankert sind und umgesetzt werden. Das lässt sich auch in Bezug auf die Praxis der Psychiatrie beobachten, etwa in der Umsetzung der UN-BRK.

Aber so etwas wie eine materielle Absicherung eines bedingungslos zu gewährenden Existenzrechts einzufordern, etwa in Form eines garantierten Grundeinkommens, kann freundliche und sympathische Mitmenschen in brutale Bestien verwandeln, Dr. Jekyll in Mr. Hyde. Die äußerst dünne und brüchige Fassade der Zivilisation enthüllt rasch ihren barbarischen Kern, wenn es um „Arbeit“ geht. Offensichtlich enthält der herrschende Arbeitsbegriff einen Gewaltkern, der nach Unterwerfung verlangt. Leben soll und darf nicht ohne Gegenleistung gewährt werden, außer im Alter und bei Krankheit. Aber auch da sollte man sich mit dem Sterben nicht allzu viel Zeit lassen bzw. möglichst schnell gesund werden (wenn es denn geht, Chroniker*innen haben ein schlechtes Image).

Das Problem, das von vielen gerne übersehen wird, ist, dass Kapitalismus-Kritik ohne gleichzeitige Arbeits-Kritik nicht zu haben ist. Wenn dies nicht geschieht und die „Arbeit“ glorifiziert wird oder zu einem reinen Gegenprinzip des Kapitals verabsolutiert wird, landet man in der autoritären Sackgasse des realen Sozialismus, mit all den damit verbundenen diktatorischen Auswüchsen.

Und wenn der Gegensatz von Kapital und Arbeit als Gegensatz von „Elite“ und „Volk“ gefasst wird, bewegen wir uns schnell im Ideologiegebäude des Antisemitismus. Denn eine so formulierte Elitenkritik folgt dem Schema einer antisemitisch codierten Kapitalismuskritik, wie sie auch dem Nationalsozialismus zugrunde lag: das hart arbeitende, „schaffende“ Volk gegen die parasitäre, „raffende“ Elite (bzw. das „asoziale Sozialschmarotzertum“ als Bodensatz der Gesellschaft).

Theodor W. Adorno gebrauchte an verschiedenen Stellen seines Werkes den Begriff einer „repressiven“ oder „negativen Egalität“. Damit ist eine psychische Struktur gemeint, die nicht auf die Befreiung, sondern die Unterwerfung aller Menschen zielt. Weil nicht an die Freiheit geglaubt wird, aber an der Gleichheit festgehalten wird, soll es wenigstens eine negative Gleichheit sein, wenn schon keine positive für möglich gehalten wird. Nach dem Motto: Wenn es mir beschissen geht und ich nichts daran ändern kann, soll es wenigstens allen anderen auch schlecht gehen, damit ich das ertragen kann.

In den auf empirische Untersuchungen in den USA basierenden und 1950 veröffentlichten „Studien über den autoritären Charakter“ wird der Typus eines „konformistischen Rebellen“ beschrieben, der sich radikal gebärdet, um dieses Ziel zu erreichen. Dass dieser Typus auch in der Gegenwart lebendiger denn je ist, war etwa beim Sturm der Trumpist*innen auf das Kapitol in Washington zu besichtigen, die ein soziales Milieu repräsentieren, das sich vehement gegen solche Errungenschaften wie eine gesetzliche Krankenversicherung für alle wehrt und einen Sozialstaat europäischer Prägung mit einer kommunistischen Diktatur gleichsetzt.

Erich Fromm, der in den 30er und 40er Jahren ebenfalls zum Kreis der sog. Kritischen Theorie um Adorno und Horkheimer gehörte, beschrieb in seinem 1941 erschienenen Werk „Furcht vor der Freiheit“ jenen psychischen Prozess, der diesen Vorgängen zugrunde liegt. Bis heute existiert in der Gesellschaft eine ungeheure Angst und Abwehr davor, radikal zu ein, wenn es um die eigene Freiheit und Emanzipation von Herrschaftsverhältnissen geht. Freiheit wird – wenn überhaupt – nur im Rahmen vorgegebener Herrschaftsverhältnisse gedacht und gelebt. Aber wie der Lyriker Erich Fried einst treffend feststellte: Freiheit herrscht nicht!

„Radikalität“ äußert sich dafür heute vor allem in der pervertierten Form von „Trumpismus“, „Querdenker“-Inszenierungen und einer AfD-Politik, die nicht die Emanzipation, sondern die Selbstunterwerfung aller Menschen in den Kampf aller gegen alle einfordert. Auf dass sich die Stärksten durchsetzen mögen: Sozialdarwinismus pur.

Es ist merkwürdig, dass es gerade die sog. „Lebensschützer*innen“ sind, die so vehement für das Existenzrecht des ungeborenen Lebens eintreten, gleichzeitig aber oft keine Skrupel haben, die dann geborenen Menschen in einen gnadenlosen und brutalen ökonomischen Überlebenskampf zu schicken, gerne auch in Kriege aller Art. Und wenn einige dieser Menschen straucheln und kriminell werden, ohne Bedenken dafür die Todesstrafe fordern (und auch vollstrecken).

Freiheit von Angst

Wer sich für das Leben einsetzen will, muß aber exakt dafür sorgen, dass die Lebensbedingungen so sind, dass niemand Angst vor diesem Leben haben muss, sondern „Lebensfreude“ kein blosses Wort ist. Angstfreiheit bedeutet die Gewährleistung dieser Lebensbedingungen dort, wo es möglich ist. Vieles entzieht sich dem: Krankheit, Unfall, Tod von nahen Mitmenschen, scheiternde Liebesbeziehungen, Schicksalsschläge verschiedener Art. Es gibt vieles im Leben, was sich nicht steuern lässt. Und es ist wahrscheinlich das meiste.

Was aber möglich ist, wenn es politisch gewollt ist, ist die globale Abschaffung der Angst vor dem Verlust der materiellen Grundlagen von Existenz, die Sicherstellung von gesunder Ernährung, einer eigenen Wohnung als privatem Rückzugsraum, von medizinischer Versorgung und sozialer wie kultureller Teilhabe als unveräußerlicher und unverletzbarer Grundrechte. Es wäre die Ermöglichung eines kreativen Wettbewerbs an Ideen, aber kein brutaler ökonomischer Konkurrenzkampf, der über Lebenschancen entscheidet. Keine an Profitinteressen, sondern an Sinn ausgerichtete Gemeinwohlökonomie. Kein schwachsinniger Nationalismus mit idiotischen Grenzziehungen. Kein Rassismus und der ganze andere Dreck. Kurzum: was möglich wäre, wenn es politisch gewollte wäre, wäre die Verabschiedung menschlicher Zivilisation von einer bis heute nicht überwundenen Primitivität, die in Teilen Züge von Wahnsinn trägt.

Wenig davon ist bis heute in einer Weise vorhanden, auch nicht in diesem Land (von anderen ganz zu schweigen), was frei von Angst und Bevormundung ist. Und den Begriff „Würde“, wie er im Grundgesetz als Leitgedanke formuliert ist, ernst nimmt und als unveräußerliches Grundrecht materiell absichert, und zwar bedingungslos (denn sonst macht Art. 1 GG keinen Sinn).

Ein dauerhaftes Leben mit einem Instrumentarium wie etwa Hartz IV macht depressiv und suizidal. Wer bis dahin nicht schon psychisch krank war, wird es spätestens dann, wenn man über einen längeren Zeitraum gezwungen ist, sich dessen Regularien zu unterwerfen. Eine sozialpolitische Konstruktion, wie sie mit Hartz IV gegeben ist, stellt nämlich das exakte Gegenteil von dem dar, was etwa in einer Psychotherapie als notwendige Kriterien benannt werden: absolute Sicherheit, Stabilität, die Abwesenheit von negativen Stressfaktoren, Angstfreiheit etc.. Und das dies so ist, ist politisch gewollt. Die Installierung einer Angstgesellschaft erleichtert die Aufrechterhaltung von Herrschaft.

Mit ungeheurem bürokratischen Aufwand, Nachweispflichten, Rechtfertigungszwängen lassen sich bestimmte Sozialleistungen oder Renten beantragen. Und mit ungefähr noch einmal soviel bürokratischem Aufwand lassen sich Menschen suchen, die Unterstützung bieten können, sog. „Assistenztätigkeiten“, natürlich stundengenau abgerechnet. Egal, ob das irgendwie mit der Lebensrealität und den Bedürfnissen der Betroffenen zu tun hat oder nicht.

Man könnte stattdessen natürlich auch ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen, und auf dieser Grundlage könnten Menschen freiwillig zueinander finden, als „freie Assoziation“ freier Menschen, die sich gegenseitig unterstützen, ohne dass dies ein irgendwie ökonomisch motiviertes Zweckbündnis wäre.

Die Abwehr, Freiräume für alles von dieser herrschenden Logik Abweichende zu gestatten, um der herrschenden ökonomistischen Rationalität zu entkommen, ist enorm. Selbst kleine Fluchten wirken bedrohlich: warum eigentlich die strikte Abwehr von Cannabis als legaler Droge, obwohl erwiesenermassen gesundheitlich weniger schädlich als Alkohol? Vielleicht, weil es eher entspannend wirkt und eine zumindest temporäre Flucht aus Produktivitätswahn und Leistungsdruck ermöglicht, und der Konsum dazu im allgemeinen von Gewaltfreiheit gekennzeichnet ist? Im Gegensatz zu Alkohol, das eher enthemmend wirkt und Aggressionen freisetzt.

Freiheit und Tod

Und wie sieht es mit der „grossen Flucht“ aus? Diese Abwehr bezieht sich selbst noch auf den Tod: denn eine Erlaubnis zur Sterbehilfe für alle ohne Bedingungen könnte zur Auflösung der herrschenden Ordnung führen. Die Option dazu könnte ein Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Sterbehilfe vom vergangenen Jahr eröffnen, als dessen Folge ein entsprechendes Gesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet werden muss.

In verschiedenen Verlautbarungen aus den einzelnen Parteien wurde aber die Meinung geäußert, dass für sog. „psychisch Kranke“ diese Option nicht gelten soll, weil die damit bezeichneten Personen offensichtlich als nicht zurechnungsfähig und damit quasi als nicht „geschäftsfähig“ gelten. Sicher ist es ein erst mal lobenswerter Gedanke, sich selbst und andere Menschen vor unüberlegten Dummheiten zu bewahren. Als zentrales Kriterium wird gefordert, dass es eine handlungsfähige Person sein muss, die zum Zeitpunkt ihrer Bitte bei Bewusstsein ist, und dass die Bitte freiwillig, überlegt und wiederholt formuliert worden und nicht durch Druck von außen zustande gekommen ist.

Aber wenn das geforderte Kriterium einer nachhaltigen Reflexion und einer daraus resultierenden gefestigten Überzeugung aus rationalen Erwägungen heraus gegeben ist (und ein Text wie dieser könnte durchaus als Nachweis eines solchen Reifungsprozesses dienen), was spricht dann dagegen, Menschen – ob mit oder ohne „unheilbare Krankheit“, egal ob körperlich oder seelisch begründet – diese Exit-Option auf Grundlage freier Entscheidung zuzubilligen? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eröffnet diesen Spielraum! Sind es vielleicht ganz andere Gründe, die im Hintergrund wirken?

Bedenken gegen eine radikal gedachte Interpretation und Umsetzung sind berechtigt. Auch – und natürlich – vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, von bis heute aktuellen Traditionen der Eugenik und den Patient*innenmorden im Nationalsozialismus, besser unter dem euphemistischen Titel „Euthanasie“ bekannt. Das ist man den Opfern schuldig, keine Frage.

Das Sterbehilfe-Urteil ist von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der einen Seite eröffnet es die lang ersehnte Möglichkeit, ein Ende in Würde zu gestatten. Auf der anderen Seite steht die berechtigte Äußerung von Ängsten, dass sozialer und psychischer Druck auf „lästige“ und „unerwünschte“ Menschen aufgebaut wird, sich doch endlich zu „verabschieden“.

Dieser Rechtfertigungsdruck auf Menschen – warum doch noch weiter leben zu wollen, auch wenn es Kosten und „Umstände“ macht – , hängt mit der „Normalität“ unserer Gesellschaft zusammen, die in ihrer Rationalität stark von ökonomischem Denken bestimmt ist, auch menschliches Leben in Kosten-Nutzen-Analysen einbettet. Eben lebens-“wert“ und lebens-“unwert“. Wie wäre es, nicht Produktivität, sondern Leben als Selbstzweck aufzufassen?

Vielleicht wollen viele Menschen, die Suizidgedanken äußern, eigentlich nicht wirklich sterben, sondern nur SO nicht mehr weiter leben, unter den herrschenden Lebensbedingungen. Die Aussage „Ich will SO nicht mehr leben“, lockt aber genau den inneren Faschismus bei vielen Menschen hervor, oft gepaart mit einer veritablen Killermentalität. Vielleicht deswegen, weil bei ihnen der heimliche Wunsch nach einem anderen, angstfreien Leben insgeheim selbst vorhanden ist, aber unterdrückt wird.

Weil die „Realität“ ja eben nicht so ist und man sich deshalb anpassen muss. Die Realität selbst zu ändern, wird als unrealistisch abgetan, als „irre“ Vorstellung von „Träumern“ und (meist linken) „Spinnern“ (im Original ungegendert). Oder wie ein ehemaliger sozialdemokratischer Kanzler, der bis heute die politische Ausrichtung dieser Partei prägt, einst meinte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Am besten zum Psychiater.

Aber vielleicht ist da ja was dran, vielleicht ist eine Änderung der „Realität“ aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse tatsächlich unrealistisch, jedenfalls innerhalb der noch verbleibenden statistisch wahrscheinlichen Lebenszeit. Wenn ein Recht auf ein anderes Leben nicht realisierbar erscheint, ist die Einforderung eines Rechts auf Nichtleben aber eine legitime Option. (Zumindest dann, wenn die Verantwortung für andere Menschen nicht als gewichtiger Grund dagegen spricht.) Franz Kafka schrieb unter dem Eindruck seiner Tuberkulose-Erkrankung „Es gibt unendlich viel Hoffnung im Leben, nur nicht für mich.“

Welches Recht auf Existenz?

Es existiert ein fundamentaler Grundwiderspruch: und der besteht in einem formalen Recht auf Leben, das sich aber als Zwang zum Leben in einer Gesellschaft erweist, die auf Gewalt und Kampf aufbaut. Du musst leben, sollst leben, darfst dich dem nicht entziehen (und wenn du es doch tun willst, dann musst du es unter unwürdigen Bedingungen tun, mit allen damit verbundenen Ängsten, Schmerzen und Risiken). Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Aber leben wir nicht in einer wunderbaren Demokratie, in der Menschenrechte geachtet und eingeklagt werden? Formal ist das wohl so. Mal abgesehen natürlich von den schmutzigen Deals, wenn es um die Sicherung von Rohstoffen geht oder um Abkommen über Gas-Pipelines mit diktatorischen Regimes. Oder um im Mittelmeer verreckende Flüchtende, die – falls sie es bis dahin tatsächlich schaffen sollten – in Elendslagern am Rande Europas vor sich hin vegetieren dürfen und dann oft gnadenlos abgeschoben werden, falls sie sich doch irgendwie bis hierhin durchschlagen. Die Fassade sieht sauber aus, weil der Dreck draussen gehalten wird.

Das Argument, dass es anderswo weitaus schlechter ist als hier, macht die Situation hier nicht besser. Und zwar nicht nur subjektiv, was das eigene Leiden angeht, sondern durchaus auch objektiv: Wenn dazu berücksichtigt wird, dass das „bessere“ Leben hier auf Kosten eines schlechten Lebens in anderen Teilen der Welt aufbaut, wird eine solche Argumentation moralisch zutiefst fragwürdig.

Der Zwang, ein Leben unter Bedingungen führen zu müssen, unter denen man nicht leben will, die man aber weder ändern noch ertragen kann, führt in eine Situation, in der es oft nur noch einen Ausweg gibt. Das gilt für Menschen in politischen Diktaturen wie in westlichen Demokratien. Der Unterschied besteht allerdings darin, in letzteren über Sachverhalte wie diese eine öffentliche Diskussion führen zu können. Diesen kleinen, aber entscheidenden Unterschied wollen selbsternannte „Querdenker*innen“ nicht anerkennen. Das ändert aber nichts an den real vorhandenen Missständen.

Wirkliche Freiheit existiert nur dann, wenn alles vermieden wird, dass eine Situation entsteht, in der ein Mensch nur zwischen zwei verschiedenen schlechten Lösungen wählen kann. Sich nicht angstfrei für eine gute Option entscheiden kann. Sicher, das ist nicht immer gegeben, z. B. bei einer unheilbaren Krankheit, die keine Lebensperspektive, keine Lebensqualität, kein Leben in Würde mehr zulässt.

Es ist aber nicht einzusehen, ein an keine Bedingungen geknüpftes Recht auf selbstbestimmtes Sterben in Würde, ein Recht auf Nichtexistenz also, zu verweigern, solange diese Entscheidung als Wahlfreiheit gegeben ist. Dass eine solche Wahlfreiheit substantiell aufgrund einer unheilbaren Krankheit nicht mehr gegeben ist, ist ebenso evident. In einem solchen Fall kann es nur noch um die Freiheit gehen, in Würde sterben zu können, auch wenn man unter anderen Umstände gerne weiter gelebt hätte.

Eine Wahlfreiheit zu schaffen hiesse, die Möglichkeit auf ein bedingungsloses Existenzrecht in Würde und ohne Angst und Gewalt zu eröffnen. Es ist die Gesellschaft, die sich entscheiden muss, ob sie dies gewährleisten will oder nicht. Wenn nicht, besteht ein legitimes Recht, ein solches Leben unter subjektiv als nicht lebenswert erachteten Bedingungen nicht führen zu müssen. Wovor hat man Angst? Dass es zu einem Massensuizid kommt, einer gewaltigen kollektiven Fluchtbewegung? Woher kommt die Angst vor einer Welt ohne Angstfreiheit? Woher kommt die anscheinend gedankliche Unmöglichkeit, sich eine Gesellschaft ohne Angst vorzustellen? Jedenfalls, soweit das einer rationalen Politikgestaltung zugänglich ist: Fundamentalistischen Desperados zum Opfer zu fallen, ist vielleicht nicht immer verhinderbar.

Ein wohlwollend gewährtes Recht auf Suizid nur bei Vorliegen einer „unheilbaren Krankheit“ (die aber keine psychische sein darf) ist eine Anmassung, solange kein bedingungsloses Recht auf eine würdevolle und angstfreie Existenz gewährt wird. Solange dies nicht gegeben ist, ist die einzig mögliche Konsequenz ein radikales Recht auf Wahlfreiheit – auch ohne unheilbare Krankheit, ob körperlich oder seelisch – , ob ich in einer Gesellschaft, die von struktureller Gewalt, Existenzangst und unwürdigen Lebensbedingungen geprägt ist, leben will oder eben nicht, und das Recht, dies als selbstbestimmte Entscheidung umsetzen zu können.

Etwa entscheiden zu können, ob ich in einer Welt weiter leben will oder nicht, in der Menschen ohne eigene Wohnung erst dann in den Blickpunkt rücken, wenn sie im Kontext einer bedrohlichen Viruserkrankung plötzlich als „Gefährder“ relevant werden. Und wählen zu können, ob ich in einer vom Primat der Ökonomie bestimmten politischen Ordnung leben möchte oder nicht, in der der unfassbare Skandal einer jahrzehntelang hingenommenen Obdachlosigkeit, die mit einem Bruchteil der für Wirtschaftsinteressen aufgebrachten Mittel sofort beseitigt werden könnte, niemanden vorher wirklich interessierte und wahrscheinlich auch nach Abflauen der Pandemie niemanden mehr interessieren wird. Wer vertraut den zum x-ten Mal geäußerten Ankündigungen aus der großen Politik, jetzt aber wirklich daran etwas ändern zu wollen? In 10, 20 oder 30 Jahren, wenn ein Großteil der heute Betroffenen den Verhältnissen längst zum Opfer gefallen ist und nicht mehr lebt? Ist es eigentlich statthaft, da von einer gewissen Art von passiver Eugenik zu sprechen?

Oder die Frage, ob ich in einem Gemeinwesen leben möchte, in dem die Existenz unzähliger Menschen in Zusammenhang mit den geltenden Corona-Regelungen zerstört wird, obwohl dies verhindert werden könnte, wenn das Existenzrecht nicht unter den Vorbehalt ökonomischer Rationalität gestellt würde. Obwohl dies nicht geschehen müsste, wenn einfach das menschliche Existenzrecht als bedingungsloses Primat gedacht wird, auch wenn dafür mit der kapitalistischen Logik gebrochen werden muss. Obwohl dies nicht so sein müsste, wenn Arbeit endlich von ihrem Warencharakter und dem Zwang ihrer ökonomischen Verwertbarkeit befreit würde. Wenn endlich eine Form des Zusammenlebens erreicht würde, in der Arbeit nicht mehr frei macht, sondern frei ist. Von ökonomischen Zwängen, zugunsten der immanenten Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit.

Warum wird zugelassen, dass weite Teile der Gesellschaft verarmen, während die ohnehin schon Reichen noch reicher werden? Warum wird da nicht radikal gegengesteuert, in Richtung auf ein globales Grundeinkommen? Warum wird hingenommen, dass diese Gesellschaft sich sozial atomisiert, von Misstrauen, Distanz, Kontrolle geprägt wird, die Zerstörung des Sozialen vorangetrieben wird? Depressionen und Suizidgedanken um sich greifen?

Warum wird in dieser Gesellschaft das Lebensrecht so herausgestellt, wenn es um den Bezugspunkt Gesundheit und die Bedrohung in einer Ausnahmesituation geht, die durch ein Virus geschaffen wird? Warum findet eine solche Debatte nicht im Rahmen der sog. „Normalität“ statt? Vielleicht, weil in diesem Ausnahmezustand die kapitalistische Logik als ganze bedroht ist, wenn nicht interveniert wird (auch wenn dafür einzelne ökonomisch geopfert werden)? Vielleicht, weil in der herrschenden Normalitätdie kapitalistische Logik als ganze bedroht ist, wenn entsprechend interveniert würde (eben weil alle gerettet würden)?

Es ist die Verfasstheit der Gesellschaft und die ihr zugrundeliegende Logik, die unheilbar krank ist. Leider liegt ihr der Gedanke an Selbstmord sehr fern. Es wäre gut, ihr Sterbehilfe zu gewähren.

Das Leben als Fest und die Musik spielt dazu…

Wie wäre es denn, wenn es eine Ökonomie geben würde, in der es weder Verlierer*innen noch Gewinner*innen gibt, sondern nur Teilhabe? In die sich jedeR gemäß den vorhandenen Fähigkeiten und Bedürfnissen angstfrei einbringen kann? (Oje, war das nicht der alte Marx? Nein, das war der frühe Marx, der des „Kommunistischen Manifests“, nicht der des „Kapitals“.)

Wenn eine solche Gesellschaft entstehen soll, ist Vertrauen nötig als Grundlage. Das Ur-Vertrauen, dass man keine Angst vor den Mitmenschen und der Umwelt haben muss. Dass diese Welt von nichts weiter entfernt ist, als von der Abwesenheit von Angst, ist offensichtlich. Die überwiegende Mehrheit der Menschheit ist von traumatischen Erfahrungen geprägt. Von der Kindheit in der Familie, sexuellem Mißbrauch, ökonomischem Überlebenskampf, staatlicher Willkür und politischer Gewalt, Krieg und Bürgerkrieg, der Flucht davor. Nicht Vertrauen, sondern Mißtrauen bildet die psychische Grundlage für die Gestaltung der Welt.

Bei den Bremer Stadtmusikant*innen hieß es: Kommt, lasst uns gehen, etwas besseres als den Tod finden wir überall… Ja, warum eigentlich nicht? Warum beispielsweise nicht einfach Musik machen können, auch wenn diese Musik nicht den Massengeschmack bedient und keine Chance besteht, damit ein ausreichendes Einkommen erzielen zu können? Weil auch der Wert der Musik sich nicht an künstlerischen Kriterien orientiert, sondern an ihrem Warencharakter. Sie muss sich verkaufen können, die Form legaler Prostitution annehmen.

Aber warum kann statt käuflicher Liebe nicht freie Liebe möglich sein, ohne Eifersucht, weil niemand jemandem etwas wegnimmt, sondern jedeR anderen Geschenke macht, in Gestalt wunderschöner Klänge und Harmonien, die den Kosmos mit Sinn erfüllen?

In einem Bilderbuch erzählt Leo Lionni die Geschichte von Frederick. Die Feldmaus Frederick lebt mit ihrer Familie in einer alten Steinmauer auf einem verlassenen Bauernhof. Alle sammeln Vorräte für den nahenden Winter, nur Frederick sitzt scheinbar untätig herum. Auf die Fragen seiner Familie, warum er nicht mithelfe, antwortet er, dass er für kalte, graue und lange Wintertage Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammele. Als der Winter kommt, leben die Feldmäuse von den gesammelten Vorräten. Der Winter ist jedoch lang, und die Vorräte gehen allmählich zur Neige. Jetzt wird Frederick nach seinen Vorräten gefragt – und er teilt mit seiner Familie die gesammelten Sonnenstrahlen, um sie zu wärmen, die Farben, um den Winter weniger grau und trist sein zu lassen, und die Worte in Form eines Gedichtes.

Okay, die Geschichte stammt aus dem Jahr 1967, dem Summer of Love. Ist lange her. Selten ist die reale Geringschätzung und der niedrige Stellenwert künstlerischer Aktivitäten so sichtbar geworden wie in der sog. Corona-Krise. Weder „systemrelevant“ noch „Risikogruppe“, sondern schlichtweg überflüssig, vernachlässigbar. Zumindest auf der Ebene politischer Entscheidungsträger*innen scheint es so zu sein, dass ästhetische Erfahrungen sehr gut verzichtbar sind, weil diese durch die Erfahrung von Macht anscheinend gut kompensierbar sind.

Lasst uns einmal ganz verrückt sein. Stellen wir uns einmal eine Szene in einem Jobcenter der Nach-Hartz-Ära vor (das dann natürlich auch ganz anders heissen wird, vielleicht „Agentur für Lebensfreude“?). „Sie machen Musik? Toll! Brauchen Sie noch ein gutes Instrument? Ich freue mich schon auf Ihr erstes Konzert. Darf es noch ein Stück Apfelkuchen sein?“ Klar, an dieser Stelle droht die Einweisung in eine geschlossene Anstalt. Ketzerische Gedanken wurden immer bestraft.

[An dieser Stelle muss die Niederschrift kurz unterbrochen werden. Der Pfleger bringt die Medikamente für die Nacht. Damit alles ruhig bleibt.]

Ja, das Leben könnte so schön sein. Darf es aber nicht. Soll es wohl nicht. Wo kämen wir denn da hin? Kehren wir also zurück in die Realität. Und wenn man da nicht leben möchte? – „Nö, dann möchte ich lieber sterben.“ „Gerne, reicht eine Dosis Natrium-Pentobarbital oder sollen es zwei sein, zur Sicherheit?“

Lasst uns wählen!

In diesem Text wurde versucht, nach den Gründen einer anhaltenden Depression zu suchen, mögliche Ursachen zu benennen. Diese zu ändern oder gar zum Verschwinden zu bringen, ist schwer, wenn nicht unmöglich. Wenn es den hier in Umrissen aufgezeigten Zusammenhang von Unterwerfung der äußeren und inneren Natur, der sich daraus ergebenden Verstrickung von Zivilisation und Barbarei gibt, bedeutet eine sich andeutende Rückkehr zur „Normalität“ nach Corona auch das Weiterbestehen aller damit verbundenen destruktiven Aspekte. Und das dadurch erzeugte psychische Leiden vieler Menschen.

Dass Musik eine enorme therapeutische Kraft entfalten kann, ist bekannt. Auch und gerade bei Depressionen. Musikinstrumente sind ein vergleichsweise sehr preiswertes Pharmazeutikum und dazu noch frei von negativen Nebenwirkungen. Gute Instrumente in der unteren Preisklasse sind bei ebay für ungefähr den gleichen Preis zu bekommen wie eine Dosis Natrium-Pentobarbital auf dem illegalen Markt. Was würde eigentlich passieren, wenn man eine Wette eingehen würde? Musik oder Tod? (Denn etwas besseres als den Tod finden wir überall in der Musikabteilung von ebay.) Das wäre jedenfalls ein interessantes psychosoziales Experiment, das auch einigen Aufschluss über den mentalen Zustand dieser Gesellschaft ergeben könnte.

Die Versuchsanordnung eines solchen Experiments könnte folgende sein: Es würde angeboten, dass Menschen eine Summe auf ein Paypal-Konto einzahlen könnten und dabei wählen könnten, ob diese Summe beispielsweise für ein inklusives Musikprojekt, dass körperlich, geistig und seelisch beeinträchtigte Menschen mit normal Verrückten zusammenspielen lässt oder aber einen Härtefallfonds, der ökonomisch Bedürftigen eine Dosis Natrium-Pentobarbital finanziert, verwendet werden soll (Verwendungszweck „M“ oder „N“). Die Option, die zuerst eine ausreichende Summe ausweist, um ihren Zweck erfüllen zu können, wird umgesetzt.

Ein solches Angebot wäre besonders attraktiv für die zahlreichen Hater*innen dieser Welt. Es würde die schmerzliche Lücke zwischen Theorie und Praxis schließen, an der alle Hater*innen dieser Welt so leiden, weil die Umsetzung ihrer guten Wünsche ja leider nicht mit einem einfachen Mausklick zu bewerkstelligen ist. Das hier vorgeschlagene Verfahren könnte diese fatale Situation radikal ändern.

Ein Kommentar wie etwa „Scheiß Musik! Nur deine politischen Ansichten sind noch scheißiger!! Verrecke du alte Sau!!!“ müsste nicht folgenlos bleiben. Ein neuer Ton könnte sich breit machen in den Kommentarspalten des weltweiten Netzes. „Habe mir gerade deine Musik angehört und möchte dir eine komplette Dosis für deinen Abschied finanzieren. Alles Gute!“ Wäre das nicht viel angenehmer? Ach ja, es sollte nicht unerwähnt bleiben: auch die beliebte Praxis der Shitstorms und Hassmails ist depressions- und suizidfördernd. Sehr sogar.

Aber das grosse Problem bei den Hassmails ist ja bisher die Schwierigkeit, den guten Wünschen nicht ebensolche Taten folgen lassen zu können. Nicht jedeR verfügt schließlich über eine schußbereite Handfeuerwaffe, ist mobil genug, den Tatort erreichen zu können und hat dann noch die Zeit, die 15 Jahre absitzen zu können.

Diese Idee mit dem Paypal-Konto könnte diese schmerzliche Lücke schließen. JedeR Interessierte könnte eine Summe überweisen, die angemessen und möglich erscheint. Von der großzügigen Einzelspende bis zu zahlreichen Kleinstspenden ist alles willkommen. Gemeinsam erreichen wir das Ziel.

Dieses Experiment stellt auch die Frage: wie kann Radikalität im 21. Jahrhundert aussehen? Vielleicht sich aus einer hässlichen Raupe in einen schönen Schmetterling zu verwandeln. Und dann zuzuschlagen. Mit dem linken Flügel natürlich. Schmetterlinge leben bekanntlich nicht lang. Aber für einen Flügelschlag reicht es. Und der Flügelschlag eines Schmetterlings reicht bekanntlich aus, damit das Chaos ausbricht.

Editorische Notiz:

Es sei darauf hingewiesen, dass Einschätzungen wie „Idiotie“, „Schwachsinn“, „Wahnsinn“ und dergleichen in diesem Text nicht als medizinische oder psychiatrische Kategorien, sondern als politische Wertungsbegriffe gebraucht wurden.

Peter Mast