Unfreiwillig ins Pflegeheim: Der harte Kampf um eine Assistenz

Viele Menschen mit Behinderung wollen so lange wie möglich ein eigenverantwortliches Leben führen. Doch das ist oft nur mit einer Assistenz möglich, die viel Geld kostet. Geld, das die Kommunen nicht immer bereit sind in vollem Umfang zu zahlen.

Ein Bericht bei FAKT vom MDR:

https://www.mdr.de/investigativ/video-435922_zc-f80c8d3a_zs-0fdb427d.html

Frau im Rollstuhl

Mit 62 unfreiwillig im Pflegeheim

Kerstin ist alleinstehend und hat Muskelschwund. Seit 24 Jahren ist sie auf Hilfe angewiesen. Trotzdem hat sie es geschafft, ein Leben in einer eigenen Wohnung zu führen. Doch dann kündigte ihr ihr Pflegedienst. Sie fand auch aufgrund von Personalmangel keinen neuen und musste in ein Pflegeheim im Landkreis Leipzig.

Ein Gefühl wie Anfang vom Ende

Damit ist für Kerstin das Unvorstellbare wahr geworden. Es fällt ihr schwer darüber zu reden und ihren Nachnamen will sie lieber nicht veröffentlichen. Einsam sei es im Heim und leer, sagt sie. Zwar hat sie dort ein Bett und regelmäßige Mahlzeiten, doch es sei nicht ihre Umgebung und sie wisse nichts mit sich anzufangen. „Schlimm, ganz schlimm war es,“ erzählt Kerstin. „Weil ich sofort gedacht habe, das wird wohl jetzt mein letzter Weg sein. Wer weiß, ob ich meine Wohnung überhaupt wiedersehe, ob ich wieder zurückkomme.“ 

Kerstins Wohnung ist immer noch so, wie sie sie verlassen hat. Voll mit kleinen eingebauten Hilfsmitteln. Dadurch konnte sie nähen, sich selbst schminken oder das Essen nachwürzen. Im Heim wird der 62-Jährigen fast alles abgenommen. „Jetzt werde ich dort wie runter gefahren,“ sagt sie. „Ich werde in vielen Sachen, die ich kann, eingeschränkt und meine Freizeit oder meine Lebenszeit, die sitz ich dort ab.“Kerstin fühlt sich zu jung für ein Pflegeheim, doch ein selbstbestimmtes Leben ist für sie nur mit einer Assistenz möglich.

Das Problem ist die adäquate Bezahlung

Seit Wochen versucht Kerstin, für sich zu Hause sogenannte persönliche Assistenten anstellen zu können. Das Problem ist die adäquate Bezahlung. Solche persönlichen Assistenten werden überwiegend von den Stadt- und Landkreisen finanziert. Behinderte Menschen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wo und wie sie leben und dafür Personal anzustellen, das ihnen im Alltag hilft.

Doch Betroffene müssen oft bis vor Gericht gehen, um ihre Assistenten angemessen bezahlen zu können. So auch David Hanke. Seit seiner Kindheit leidet der 29-jährige an Spastischer Tetraparese und ist teilweise gelähmt. Heute lebt er in seiner eigenen Wohnung in Markleeberg. Fünf Stunden am Tag geht er in einer Werkstatt arbeiten, den Rest der Zeit wird er von 6  Assistenten unterstützt – auch in der Nacht. Nur durch einen verständnisvollen Richter war es jahrelang möglich, mehr als den Mindestlohn zahlen zu können und überhaupt adäquate Assistenten zu finden. Für deren Anstellung bekommt er vom Sozialamt ein persönliches Budget in Höhe von 8.500 Euro. Davon werden die Löhne, Sozialabgaben, Urlaub und Verwaltungskosten für die Assistenten finanziert.

Kein Job wie jeder andere

Doch der Streit um die Löhne geht wieder los. Obwohl es zum Großteil eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe ist, ist Assistenz kein Ausbildungsberuf. Auch deshalb gibt es dafür oft nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde.David Hanke, der seit seiner Kindheit an Spastischer Tetraparese leidet, ist beim Leben in der eigenen Wohnung auf seinen Assistenten Rumen Alexiew angewiesen.

Rumen Alexiew, einer der persönlichen Assistenten von David, bringt es auf den Punkt: „Das ist keine gerechte Bezahlung, auf keinen Fall. Weil das mehr als ein Job ist. Wenn mich einer fragt, was ich fühle, wenn ich zu David zur Arbeit gehe, dann sage ich, dass ich mein Leben zu Hause ablege und in der Zeit sein Leben lebe.“

Auch im Fall von Kerstin geht es um angemessene Bezahlung. Sie hat drei Frauen gefunden, die als Assistentinnen bereit stehen würden. Allerdings nicht für den vom Sozialamt Borna angesetzten Lohn von 9,35 Euro die Stunde. „Das ist schon aufwendig diese Pflege. Durch den Muskelschwund habe ich keine Kraft und da klapp ich auch schnell mal zusammen. Da muss zugegriffen werden,“ sagt Kerstin.

Zu wenig, um selbstständig zu leben

Sarah Lenz hat auch eine Muskelerkrankung. Für den Muldentaler Assistenzverein e.V. berät sie Menschen, die eine persönliche Assistenz wollen. Im Fall von Kerstin setzt sie einen angemessenen Stundenlohn von 13,85 Euro an. Für eine 24 Stunden Unterstützung mit allen Abgaben kalkuliert sie Kosten von rund 15.000 Euro im Monat.Für den Muldentaler Assistenzverein e.V. bietet Sarah Lenz eine ergänzende, unabhängige Teilhabeberatung an.

Das Sozialamt Borna bewilligt aber nur rund 9.300 Euro. „Da weiß man eigentlich, davon werde ich mein Leben nie selbstständig leben können, weil ich so keine Assistenzen finden werde,“ sagt Lenz zu der Bewilligungspraxis.

Erschwerend kommt nach den Erfahrungen der Beratungsstelle hinzu, dass zum Beispiel im benachbarten Leipzig durchaus höhere Löhne angesetzt werden. In Sachsen werden nach Anfragen bei den zuständigen Städten und Landkreisen unterschiedliche Lohnkosten von Assistenten übernommen, wenn diese bei  behinderten Menschen zu Hause angestellt sind.

Stundenvergütung vom Wohnort abhängig

So übernimmt z.B. der Landkreis Meißen für eine Nichtfachkraft eine Stundenvergütung von mindestens 12,50 Euro brutto. Neben dem Landkreis Leipzig richtet sich auch der Landkreis Nordsachsen nach dem gesetzlichen Mindestlohn. In der Stadt Leipzig sind es wiederum mehr als 14 Euro und in Chemnitz wird sogar ein Stundensatz von fast 20 Euro anerkannt.In Sachsen reicht die Stundenvergütung für Assistenzen von 9,35 Euro Mindestlohn in den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen bis 19,87 Euro in Chemnitz.

Ob der für Kerstin zuständige Landkreis Leipzig doch noch einen Schritt auf sie zu geht und mehr als den Mindestlohn zahlen wird? Im Interview sagt die stellvertretende Pressesprecherin des Landkreises, Belinda Reg’n, dass man im Einzelfall den Bedarf ermitteln und alles möglich machen würde, was möglich ist. Mehr als der Mindestlohn sei aber nicht drin, weil „das im Landkreis Leipzig festgeschrieben ist. Man hat sich im Haus darauf geeinigt, dass man bei Assistenten den Mindestlohn zahlt.“

Und Kerstin? Die hat sich wie viele Betroffene einen Anwalt genommen. „Ich kämpf das auch bis zum Schluss durch. Ich hoffe, dass man versteht, dass ich mit 62 Jahren in einem Pflegeheim noch ein bisschen fehl am Platze bin.“

P.M.