Das Verhältnis von Betroffenen zur Psychiatrie ist in den letzten 100 Jahren durch widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichnet. Im folgenden wird versucht, die Metamorphosen und Sackgassen der Psychiatriekritik von der Anti-Psychiatrie bis hin zur Inklusions-Politik nachzuzeichnen und kritisch zu kommentieren. Exklusionsverfahren am Anfang folgen Prozesse der Selbstaneignung von Diagnoseformen wie beim Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) im Kontext von «’68» und den neuen sozialen Bewegungen, um schließlich in die Transformation von Psychiatriekritik in Formen von Identitätspolitik in der Gegenwart zu münden. Wir stoßen dabei auf vielfältige Gewaltverhältnisse, die die Gesellschaft, die Psychiatrie und die von ihr Betroffenen gleichermaßen, aber nicht gleichartig bestimmen. Zunächst ein Blick zurück…
1918/19: Revolutionäre Psychopath*innen im ordentlichen Exklusionsverfahren
In einer von starren Normen und Traditionen geprägten Gesellschaft war es üblich, Utopien eines anderen Lebens strikt abzuwehren und zu diskreditieren. Gerne wurden radikale Aktivist*innen durch die Psychiatrie pathologisiert, so etwa in «Gutachten» führender deutscher Psychiater, in denen Mitglieder der Münchener Räterevolution 1918/19 als vermeintliche «Psychopathen» delegitimiert wurden. In der Münchener Klinik von Emil Kraepelin, dem Begründer des modernen Klassifikationssystems in der Psychiatrie, wurden Aktivisten wie Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller psychiatrischen Diagnosen unterworfen und als gefährliche «Psychopathen» (Mühsam) oder neurotische «Hysteriker» (Toller) klassifiziert.
Als dysfunktionaler Mensch stellt sich irgendwann die Frage, die von außen erlebte Exklusion nicht mehr hinzunehmen, mit dem Versteckspiel aufzuhören und sich zu seinem eigenen Anderssein zu bekennen. Also dies als Teil der eigenen Identität anzunehmen und sich die Freiheit herauszunehmen, die Umwelt schonungslos mit diesem Umstand zu konfrontieren. 50 Jahre später war diese Phase erreicht…
1968ff: «Aus der Krankheit eine Waffe machen» – Selbstexklusion als politische Strategie
In der sich bildenden antipsychiatrischen Bewegung der 1970er Jahre vollzog sich ein Paradigmenwechsel. Ähnlich wie andere soziale Bewegungen (beispielsweise die schwullesbische Bewegung) wurde der mit der Diskriminierung und Stigmatisierung verbundene Identitätsaspekt von immer mehr Betroffenen nicht mehr abgewehrt in der Einforderung von «Normalität», sondern als eigenes Sein positiv angenommen und zur Grundlage der politischen Aktivität gemacht. Das, was heute als «Identitätspolitik» bezeichnet wird, fand damals ebenso seine Anfänge wie die spätere Selbsthilfebewegung.
Im Bereich der Psychiatriekritik kann als bekanntestes Beispiel das Sozialistische Patientenkollektiv in Heidelberg mit ihrem Slogan «Aus der Krankheit eine Waffe machen!» genannt werden. Die herrschende «Normalität» wurde jetzt in ihren pathologischen und destruktiven Tendenzen analysiert, kritisiert und der außerhalb der Systemlogik stehende «Kranke» zum vermeintlichen revolutionären Subjekt erkoren (die Theorie von Herbert Marcuse, dass gesellschaftliche Veränderungen nur mehr von nicht integrierten Randgruppen ausgehen, drängte hier zur Praxis).
Das Scheitern dieser Ansätze war aber vorprogrammiert: Ein dysfunktionaler Mensch wird mangels Integration in die Rationalität der Mehrheitsgesellschaft nicht automatisch zu einem revolutionären Subjekt. Dass der Weg einiger der Protagonist*innen des SPK später in die RAF führte, ist eher ein Indiz für eine weitere Radikalisierung in zunehmender gesellschaftlicher Isolation, als deren Sprengung. Dies hat weitere Pathologisierungen politischer Aktivist*innen begünstigt. Ist kein wirklicher Ausweg in Sicht, bleibt eigentlich nur noch das Zurückziehen in die eigene Befindlichkeit und der Aufbau einer dazu passenden Abwehrformation. Weitere 50 Jahre später finden wir diese Anpassungsleistung als quasi Standardmodell bei vielen Betroffenen. Es beginnt die Zeit der Verletzlichkeit…
um 2018: «Trigger-Warnung» und die Inklusion in «safe spaces»
Im Zusammenhang mit der Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen in den 1990er und 2000er Jahren und vor allem den Diskussionen um die psychischen Nachwirkungen bei den Überlebenden der Shoah sowie ihrer Kinder- und Enkel-Generationen rückte der Begriff des «Traumas» ins Zentrum vor allem akademischer Diskurse. Die Identifizierung mit der OpferPerspektive wurde zum vorherrschenden Paradigma des eigenen Selbstverständnisses. Dazu passten Erfahrungen wiederholten Scheiterns politischer Bewegungen und der zunehmende Utopieverlust im beginnenden 21.Jahrhundert. Identitätspolitik gegen Stigmatisierung, Anerkennungsdiskurs statt Anonymisierung – aber auch Rückzugsbewegung an Stelle von Herrschaftskritik.
Die bis dahin bestehende offensive, auf gesellschaftliche Veränderung abzielende Politikausrichtung (wie noch beim SPK) wurde mehr und mehr durch eine defensive, verstärkt auf das Individuum bezogene «Politik des Selbst» abgelöst, die oft nur noch auf eine Abschottung vor den bestehenden Gewaltverhältnissen ausgerichtet ist. Ihren manifesten Ausdruck findet diese Entwicklung vor allem in der Praxis der ‹Trigger-Warnung› vornehmlich in einem akademisch geprägten Milieu, und der damit verbundenen Einforderung von «safe spaces», sicheren Lebensräumen inmitten einer als hochgradig traumatisierend empfundenen Umwelt.
Damit hat sich innerhalb der letzten 100 Jahre die politische Konstellation vollständig umgekehrt: wurde früher linke Politik von rechts pathologisiert, so findet dieser Vorgang heute eher von links als Selbstpathologisierung statt. Die damit verbundene berechtigte Forderung an die soziale Umwelt, darauf zu achten, andere Menschen nicht zu verletzen, wird im Kontext des sich ausbreitenden Rechtspopulismus mit dem Kampfbegriff der «Political Correctness» diffamiert. Die reale Verletzlichkeit von Personen wird im rechten Milieu zur bloßen politischen Zensurstrategie von links umgedeutet, um eigene Hass-Attacken zu legitimieren und sich selbst als Opfer angeblicher Zensur zu inszenieren.
Neben den Angriffen von rechts zeigt sich aber eine Gefahr noch von ganz anderer Seite: der ehemalige «Feind», die vormals «totale Institution» der Psychiatrie, zeigt sich lernbereit und nimmt – wie der Kapitalismus generell – kritische Impulse gerne auf, um sich zu modernisieren und damit die gesellschaftliche Akzeptanz zu steigern. Es wird schwieriger, grundsätzliche Kritik zu üben…
Von der Exklusion zur Inklusion: Der neue Geist der Psychiatrie
Identitätspolitik von Betroffenen, die sich zu ihrer Legitimation auf psychiatrische Diskurse stützt, um gesellschaftliche Gewaltverhältnisse anzuklagen, muss sich mit dem Widerspruch auseinandersetzen, dass auch die Psychiatrie sich in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung verändert hat. Der «neue Geist der Psychiatrie» verändert die Rahmenerzählung: Im Prinzip sind alle irgendwie krank, das ist völlig «normal». Es kommt jetzt aber darauf an, das «Beste» aus sich herauszuholen, sich permanent zu optimieren. Die neoliberale Falle schnappt zu. Gewalt kleidet sich heute als individuelle Wahlfreiheit. Die Gewalt richtet sich so nach innen, gegen das Selbst – vor allem wenn der Mensch isoliert bleibt und keine gemeinschaftliche Verarbeitung, Reflexion und Praxis stattfindet, die Auswege aufzeigen könnte.
Es gibt Menschen, die diese Gewalt nach außen wenden. Politisch regressiv findet sich dies als Gewalt gegen andere im autoritären Charakter des Rechtspopulismus. Aber auch als existentielle Tat in Gewaltakten einzelner, die von Seiten der Psychiatrie dann auch als «psychisch krank» definiert werden. Oft sind es Taten traumatisierter Menschen, die selbst massive Gewalt erlebt haben. Im Falle von Geflüchteten werden solche äußerst seltenen Vorfälle von einschlägigen Medien aufgegriffen und zum Anlass rassistischer Projektionen.
Es sind solche vermeintlichen Einzelfälle, die zur Legitimation psychiatrischer Zwangsmaßnahmen dienen, muss doch die Bevölkerung vor den kranken Gewalttäter*innen geschützt werden. Als „Einzelfälle“ können sie aber nur wahrgenommen werden, wenn die dahinter stehenden Gewaltverhältnisse ausgeblendet werden. Entscheidend ist aber, dass die Stigmatisierung von durch psychiatrische Diagnosen und Klassifikationen betroffenen Menschen dadurch lebendig gehalten wird. Denn wer will sich noch outen, wenn er*sie als potentielle*r Killer*in gesehen wird?
Die Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen vom starren Protonormalismus im Fordismus zum flexiblen Normalismus im Neoliberalismus prägen auch den psychiatrischen Diskurs, der sein Rahmennarrativ von Exklusion auf Inklusion umstellt: heute ist ein gewisser Grad von «Kranksein» normal, die Grenzen zu «Gesundsein» sind fließend. Nicht für Kranksein muss man sich rechtfertigen, aber dafür, nicht genug an sich zu arbeiten. Inklusion wird so zur Verpflichtung, Exklusion die eigene Schuld. Die Gesellschaft entledigt sich so geschickt ihrer Außenseiter*innen. …
aber nach Corona: alles auf Anfang?
Aber dann kam Corona und mit den Maßnahmen dagegen verbunden ein neuer autoritärer Zug in die Politik. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird mit Sanktionen bedroht. Und notfalls mit der Zwangseinweisung in die Psychiatrie, wie in Sachsen geplant (mitgetragen von SPD und Grünen). Die „neue Normalität“ bewegt sich zwischen den Polen der „Systemrelevanten“ und „Risikogruppen“. Für den Rest der Gesellschaft tritt neben den Begriff der Inklusion der der Resilienz, die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit gegenüber den neuen Zumutungen eines potentiell permanenten Ausnahmezustandes und sich verschärfender Verteilungskämpfe um ökonomische Ressourcen .
In der Weimarer Republik war es der Bereich der damaligen Reformpsychiatrie, die sich sozialpsychiatrisch neu orientierte, in deren Kontext begonnen wurde, zwischen denen zu unterscheiden, denen geholfen werden konnte, und jenen, die als „hoffnungslose“ Fälle galten. Im Nationalsozialismus radikalisierte sich dieser Ansatz in den Gegensatz von „Heilen und Vernichten“. Postnazistische Biomacht tötet aber nicht mehr, wie es noch die alte Macht der Souveränität praktizierte. Es ist nicht die Macht „sterben zu machen oder leben zu lassen“, sondern „leben zu ‚machen’ und sterben zu ‚lassen’“, wie Michel Foucault es formulierte. Werden es durch und nach Corona also die Entscheidungen zur Priorisierung medizinischer und sozialer Hilfeleistung sein, die sogenannte „Risikogruppen“ im Rahmen einer gesellschaftlichen „Triage“ als erste „opfern“?
Peter Mast
Literatur zum Weiterlesen:
Peter Riedesser/Axel Verderber: «Maschinengewehre hinter der Front». Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Mabuse-Verlag, Frankfurt/M. 2004 (siehe hier das Kapitel «Psychiatrische Schützenhilfe bei der Bekämpfung der revolutionären Bewegungen 1918/19», S. 80 – 90)
Christian Pross: »Wir wollten ins Verderben rennen». Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg 1970-1971, Psychiatrie-Verlag, Köln 2016
Eva Berendsen u. a. (Hg.): Trigger-Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen, Verbrecher-Verlag, Berlin 2019