Hintergrundinformationen zu den Knochenfunden auf dem Gelände der Freien Universität Berlin

Im Dachgeschoss der Ihnestraße 22 verwahrte das KWI-A seine anthropologische Sammlung. Sie enthielt vor allem menschliche Schädel und Skelettteile. Einige waren nur wenige Jahre, andere Tausende von Jahren alt. Auch Gipsabdrücke von Körperteilen sowie Skelette und feucht konservierte Teile von Tieren wurden hier gelagert. Obwohl der Direktor Eugen Fischer sich von der klassischen, vermessenden Anthropologie lösen wollte, ließ er die Sammlung laufend erweitern. Viele Mitarbeiter*innen verwendeten sie für ihre Forschungen.

Die größte Sammlung übernahm das KWI-A von Felix von Luschan. Luschan war ab 1886 am Berliner Museum für Völkerkunde (heute Ethnologisches Museum Berlin) tätig gewesen und ab 1900 zusätzlich Professor für Anthropologie an der Berliner Universität (heute Humboldt-Universität). Seine Sammlung umfasste etwa 4.000 Gebeine von Menschen aller Kontinente. Den größten Teil hatte Luschan während der deutschen Kolonialzeit zusammentragen lassen. Nach Luschans Tod übernahm Fischer 1927 seinen Lehrstuhl. Damit kam auch dessen Sammlung an das Dahlemer Institut. 1943 wurden alle Sammlungen ausgelagert, um das Dachgeschoss als Lazarett nutzbar zu machen.

Die „Luschan-Sammlung“ wuchs besonders während der deutschen Kolonialzeit. Militärs, Forschungsreisende, Missionare und Kolonialbeamte lieferten die menschlichen Überreste. Die Gebeine gruben sie häufig ohne Zustimmung von Angehörigen aus. Luschan katalogisierte die Zugänge nach anthropologischen Gesichtspunkten. Heute ist die Luschan-Sammlung im Besitz der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Zu den Gebeinen aus der Sammlung im Dachgeschoss gehörten auch jene von Uikabis und ihrer Tochter Nabnas. Die zwei Frauen arbeiteten als Arbeiterinnen auf einer Farm im Osten Namibias (damals Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“). Im Oktober 1906 verließen sie die Farm. Der Farmbesitzer, der Deutsche Paul Wiehager, ließ sie ergreifen, anbinden und verhungern. Da es zum Gerichtsprozess gegen den Farmer kam, wurden Uikabis‘ und Nabnas‘ Leichen als Beweisstücke verwahrt. Nach dem Prozess stritten Stellen der Kolonial- und der Reichsverwaltung darum, wer die Gebeine behalten dürfte. Am Ende erhielt sie Luschan. Als dessen Sammlung an das KWI-A ging, gelangten auch Uikabis‘ und Nabnas‘ sterbliche Überreste in die Ihnestraße 22. Im März 2014 gab die Charité Uikabis‘ und Nabnas‘ Gebeine mit 19 weiteren Gebeinen nach Namibia zurück.

Die Sammlung des KWI-A wurde bis 1935 vom Anthropologen Hans Weinert betreut. Dieser hatte bereits früher an Objekten aus der Luschan-Sammlung geforscht. Um die evolutionäre Beziehung zwischen Mensch und Affe zu klären, vermaß er die Stirnhöhlen von Schädeln. Dazu gehörten auch die Schädel von Uikabis und Nabnas.

In vielen deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen werden bis heute menschliche Gebeine als anthropologische Objekte verwahrt. Aus ehemals kolonisierten Ländern fordern heute unterschiedliche Akteure deren Rückgabe. 2011, 2014 und 2019 übergab die Berliner Charité die Gebeine von 162 Personen an Namibia, Australien und Neuseeland. Die Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat 2020 die Rückgabe von etwa 1.200 Schädeln nach Ruanda, Tansania und Kenia angekündigt. Diese Rückgaben erfolgen durch Institutionen. Namibische Akteure kritisieren, dass die Verhandlungen nicht von Seiten der Bundesregierung geführt werden. Diese entziehe sich der Verantwortung für staatlich begangenes Unrecht.

Nach langen Forderungen von Seiten namibischer Akteure übergab die Universität Freiburg im März 2014 die Gebeine von 14 Personen an eine namibische Delegation. Die menschlichen Überreste stammen aus der Alexander-Ecker-Sammlung, die von 1900 bis 1927 von Eugen Fischer betreut wurde. Fischer selbst hatte 1908 in Namibia Gräber von Nama geplündert und vermutlich die Überreste vom im Konzentrationslager Swakopmund Ermordeter in die Sammlung überführt.

In der Ihnestraße 24 entstand 1926/27 die Direktorenvilla als Wohnhaus für den Direktor des KWI-A. Eugen Fischer – und später Otmar von Verschuer – lebten dort. Seit 1927 war Hermann Muckermann (1877-1962) Abteilungsleiter für Eugenik am KWI-A. Der Priester und Biologe hatte in der Weimarer Republik für eine eugenische Politik geworben, vor allem in katholischen Kreisen: Sozial Schwache und als „erbkrank“ Stigmatisierte sollten weniger Kinder bekommen – „gesunde“ bürgerliche Familien mehr. Muckermann arbeitete 1932 an einem Entwurf für ein Sterilisierungsgesetz mit. Auf Betreiben der Nationalsozialisten musste er das Institut aber 1933 verlassen. Weil er deshalb als politisch unbelastet galt, konnte er seine Arbeit nach 1945 in einem eigenen Institut fortsetzen. Nach 1945 warb Muckermann an seinem Institut für eine „freiwillige“ Eugenik.

Fritz Lenz war seit Oktober 1933 Muckermanns Nachfolger als Abteilungleiter für Eugenik. Otmar von Verschuer leitete von 1933 bis 1935 die Abteilung für „menschliche Erblehre“. Eugen Fischer amtierte als Direktor des KWI-A und stand zugleich der Abteilung für Anthropologie vor.

Die Bibliothek des KWI-A diente vor allem als Anlaufstelle für Humangenetiker*innen. Auch der ehemalige Doktorand Otmar von Verschuers, Josef Mengele, suchte die Bibliothek auf. Nachdem er 1943 KZ-Arzt in Auschwitz geworden war, kam er am Institut in Kontakt mit der Assistentin Karin Magnussen (1908-1997). Diese forschte zur Heterochromie (Verschiedenfarbigkeit) von Augen eines Individuums – an Kaninchen und an Menschen. Mengele ließ für sie Experimente an Familienangehörigen im KZ durchführen. Magnussen erhielt von ihm „Sippentafeln“, Fotografien und Untersuchungsergebnisse. Sippentafeln sollten die Verwandtschaftsverhältnisse von Menschen und die Vererbung von Merkmalen abbilden. Mengele schickte auch Augen von Ermordeten nach Dahlem. Magnussen verfasste 1944 einen Aufsatz zur Heterochromie der Augen, der unveröffentlicht blieb. 1980 erstellte sie eine Neufassung. Das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft sollte den Aufsatz „für die nächste Wissenschaftlergeneration deponieren“.

Als wichtige Untersuchungsmethode am KWI-A galt die Daktyloskopie. Dabei wurden Finger-, Hand- und Fußabdrücke untersucht und verglichen. Das Verfahren kam etwa bei Vaterschaftsgutachten und „rassenkundlichen Abstammungsgutachten“ zum Einsatz. Georg Geipel war am KWI-A der Spezialist in Daktyloskopie. In seinem Nachlass fanden sich 93 Karten mit Handabdrücken von Kindern und Jugendlichen, die als geistig behindert galten. Die Abdrücke wurden den Kindern größtenteils 1936 in den Wittenauer Heilstätten bei Berlin abgenommen. Beteiligt war der ehemalige KWI-A-Doktorand Bernhard T. Duis, der im Austausch mit Geipel stand. Offenbar suchten die Forscher in den Abdrücken nach Markern für geistige Auffälligkeiten. Wahrscheinlich wurden die Kinder der Wittenauer Heilstätten im Auftrag des Rassenbiologischen Instituts Königsberg untersucht. Dieses arbeitete mit Geipel zusammen.

Das KWI-A erstellte für den NS-Staat „Abstammungs- und Rassegutachten“. Damit unterstützte es die Erfassung, Verfolgung und Vernichtung von Menschen. Der Institutsmitarbeiter und spätere Direktor Otmar von Verschuer wechselte 1935 als Professor nach Frankfurt/Main. Am dortigen „Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene“ arbeitete er eng mit seinem Assistenten Josef Mengele zusammen. Verschuer sah durch unabhängige Gerichte seine Autorität als „Rasse“-Gutachter gefährdet. 1937 forderte er deshalb eine Beschränkung der Gerichte: Allein „erbbiologische“ Gutachten dürften die Abstammung eines Menschen klären.

Das KWI-A bereitete die geheime Zwangssterilisierung von afro- und asiatisch-deutschen Kindern vor. Nach dem Ersten Weltkrieg waren Gebiete am Rhein von Truppen der Alliierten besetzt worden. Darunter befanden sich Soldaten aus Kolonien in Asien und Afrika. Einige von ihnen zeugten Kinder mit deutschen Frauen, die abwertend als „Rheinlandbastarde“ bezeichnet wurden. Bereits in der Weimarer Republik betrachteten Behörden die Kinder als Gefahr für das „deutsche Volk“ und erwogen ihre Sterilisierung. Die Nationalsozialisten setzten diese Idee dann um.

Einer der beteiligten Mitarbeiter des KWI-A war der Zoologe und Anthropologe Wolfgang Abel. In der Zeitschrift des Rassenpolitischen Amts der NSDAP empfahl Abel 1934 indirekt die Sterilisierung afro- und asiatisch-deutscher Kinder. Das Innenministerium sendete den Aufsatz an Behörden im ganzen Reich. Sie sollten Wege finden, das Gesetz zur Sterilisierung „Erbkranker“ auch auf diese Kinder anzuwenden. Im Auftrag des Innenministeriums fotografierte und vermaß Abel 39 afro- und asiatisch-deutsche Kinder. Sein Befund: Sie seien gesundheitlich und geistig schwach. Abels Untersuchung lieferte die pseudowissenschaftliche Legitimation, um 1937 rund 400 Kinder zu sterilisieren.

Die Gestapo hatte für die Zwangssterilisierung der afro- und asiatisch-deutschen Kinder drei Kommissionen eingerichtet. An allen waren Mitarbeiter des KWI-A beteiligt. Der Kommission III gehörte der Anthropologe Herbert Göllner an, ein ehemaliger Doktorand am KWI-A.

Nach 1945 waren es die etwa 5.000 Kinder von deutschen Frauen und Schwarzen alliierten Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, die Behörden als soziales Problem darstellten. Das Innenministerium erwog ihre Ausweisung. Im März 1952 befasste sich der Bundestag mit ihrer Situation. Abgeordnete sahen ihre bevorstehende Einschulung als besondere Herausforderung: Die Kinder könnten auffällig sein. Andererseits bestünde die Chance, durch ihre gleichberechtigte Behandlung einen Teil von Deutschlands historischer Schuld „abzutragen“.

Auch Wissenschaftler*innen widmeten sich nach 1945 erneut afrodeutschen Kindern. Ihre „intellektuelle Leistungsfähigkeit“ würde niedrig bleiben, behauptete so der Anthropologe Walter Kirchner in seiner Doktorarbeit. Er legte sie 1952 an der Freien Universität Berlin ab. Sein Doktorvater war der frühere KWI-A- Eugeniker Herrmann Muckermann, der ab 1948 in der Ihnestraße 24 ein Nachfolge-Institut des KWI-A leitete. Nach Kriegsende diente das Gebäude also zunächst weiter der eugenischen Forschung: Von 1948 bis 1961 befand sich in der Villa das Institut für angewandte Anthropologie. Es wurde von der Stadt Berlin und von der Max-Planck-Gesellschaft unterstützt. Heute sitzt hier das Center für Digitale Systeme der Freien Universität.

Peter Mast

(Der Text stützt sich auf Materialien, die als Entwürfe für Ausstellungstexte im Projekt »Geschichte der Ihnestr. 22« verwendet wurden.)